Was uns bindet
Dokumentarfilm, AT 2017, Farbe, 102 min., OmeU
Diagonale 2017
Regie, Buch: Ivette Löcker
Kamera: Frank Amann
Schnitt: Michael Palm
Originalton: Tong Zhang
Produzent:innen: Ralph Wieser, Georg Misch
Produktion: Mischief Films
Großer Diagonale-Preis 2017
Bester österreichischer Dokumentarfilm
Ivette Löcker besucht ihre Familie im Lungau. Dort soll das Bauernhaus an die Kinder übergeben werden. Ebenso wie das alte Gebäude vom Schimmel befallen ist, erweist sich das familiäre Konstrukt als zunehmend porös. Eine filmische Familienaufstellung, die auch zur Erzählung über das Leben auf dem Land wird – ein spannungsgeladenes Porträt einer Familie, in der vieles unausgesprochen bleibt, manches zu oft gesagt wird und das plötzliche Umschalten von Distanz auf Nähe zum Hochkochen der Emotionen führt.
Gerade als ich geglaubt habe, endlich mit meinen Gefühlen für meine Eltern und meine Herkunft im Reinen zu sein, vererbt mir mein Vater zur Hälfte sein altes, baufälliges Bauernhaus. Seither lastet das Erbe wie ein Felsbrocken auf mir. Ich leide unter Atemnot. Ich merke: Die Auseinandersetzung mit meiner Familie beginnt erst jetzt.
(Ivette Löcker)
Ivette Löcker besucht ihre Familie im Lungau. Das Erbe soll vorzeitig aufgeteilt, begutachtet, für die Renovierung bereit gemacht werden. Die in Berlin lebende Dokumentarfilmemacherin nimmt diesen Besuch zum Anlass für eine filmische Auseinandersetzung mit ihrer Familie, die sich mehr und mehr zu einem offenen, ambivalenten Exkurs über das Leben auf dem Land und das Konfliktpotenzial unterschiedlicher Lebensentwürfe entwickelt. Die Frage „Was verbindet uns noch?“ hängt belastend im Raum. Sie zu stellen ist ein Wagnis. Sind es vielleicht nur die gemeinsamen Besitztümer – das alte Bauernhaus, der Gemüsegarten, die Tenne –, die das Ehepaar und ihre Kinder noch zusammenhalten?
Obwohl seit Jahrzehnten emotional getrennt, leben Löckers Eltern nach wie vor unter einem Dach. Am Küchentisch vollziehen sich kleine Machtkämpfe, beinahe zärtliche Sticheleien, aber auch bittere Reminiszenzen an die verblasste erste Verliebtheit und an die Unwägbarkeiten eines geteilten Lebens. „Dann hat das Schicksal seinen Lauf genommen“, heißt es einmal, und die Zuseher/innen werden Zeug/innen einer lakonischen Erinnerungsarbeit: Mitunter schmerzhaft werden materielle wie immaterielle Familienbünde sichtbar, die trotz der persönlichen Fokussierung einen universellen Kern aufweisen: Die unglückliche Ehe belastet immer noch, nicht nur das ehemalige Paar, auch die drei Töchter, von denen eine nur per Skype präsent ist.
Ebenso wie das alte Haus von schädlichem Schimmel befallen ist, erweist sich das Familienkonstrukt als zunehmend porös. Und doch wird alles noch zusammengehalten – es besteht die Möglichkeit zu sanieren, Risse zu kitten und die Substanz zu verstärken. Löcker filmt sich und ihre Familie beim Versuch, diese Möglichkeiten auszuloten – vielleicht ist gar der Film Antrieb und Movens der innerfamiliären Aufarbeitung. Trotz all der Involviertheit niemals drängend skizziert sie ein mutiges, bisweilen beklemmendes Familienporträt voller Zwischentöne und melancholisch-kopfschüttelnder Komik – die Geschichte einer Familie, in der vieles unausgesprochen bleibt, manches zu oft gesagt wird und das plötzliche Umschalten von Distanz auf Nähe zum Hochkochen der Emotionen führt.
(Katalogtext, cw)