Anomalie
Dokumentarfilm, AT 2018, Farbe+SW, 81 min., 14.3. dOV / 16.3. OmeU
Diagonale 2018
Regie: Richard Wilhelmer
Buch: Richard Wilhelmer, Daniel Haingartner
Kamera: Serafin Spitzer
Schnitt: Alexander Murygin
Weitere Credits: Sprecherin: Anja Stadlober
Tongestaltung: Karim Weth
Tonschnitt und Mischung: Alexander Koller
Audio Postproduktion Leitung: Marco Zinz
Tonstudio: The Grand Post
Tonaufnahme Daniel Haingartner
Tonaufnahme Studio: Christian Obermaier
Farbkorrektur & Compositing: Matthias Halibrand
Dramaturgische Betreuung: Ryan Jeffery
Produktionsassistenz: Maria Rauch
Kamera Kassel: Patrick Jasim
Lektorat: Karoline Walter
Untertitel: Laure Gaillard
Egozentrisches Kamerasystem: Ben Maus, Richard Wilhelmer
ProtagonistInnen:
Fritz Joachim Rudert
Gerhard Roth
Elisabteh Loftus
Allen Frances
Arthur Bodin
Adelheid Kastner
Regina Hickl
Matthias Seibt
Joscha Bach
Produzent:innen: Richard Wilhelmer, Daniel Haingartner
Was bedeutet „normal“? Wer hat
die Deutungshoheit, psychologische
Messlinien zu definieren? „Wir
müssen uns enthindern. Die ganze
Diagnostiziererei ist eine Behinderung“,
meint etwa Fritz Joachim
Rudert, Initiator des „Lehrstuhls
für Wahnsinn“ und Philosoph mit
unfreiwilliger Psychiatrieerfahrung.
Anomalie begleitet Rudert und seine
Mitstreiter/innen und vollzieht dabei
eine filmische Suchbewegung, die
sich dem Zusammenhang zwischen
Gesellschaftspolitik und psychiatrischer
Diagnose widmet.
Unter „Anomalie“ versteht man allgemein eine
Abweichung von der Norm. Doch was bedeutet „normal“,
und wer hat die Deutungshoheit, psychologische
Messlinien zu definieren? Fritz Joachim Rudert
ist eine Erscheinung: Gehüllt in selbstbemalte Westen
und mit allerhand Klimbim behängt, erzählt
er von Stationen einer unfreiwilligen Psychiatriekarriere,
die kontinuierlich abwärts führte. Einen
„Lehrstuhl für Wahnsinn“ versuchte der promovierte
Philosoph lange Zeit an die FU Berlin anzugliedern,
um öffentliche Diskurse rund um den „Irrsinn“ kreativ
aufzubrechen und nicht nur jener Seite zu überlassen,
die Diagnosen stellt.
Anomalie ist nicht reines Porträt: Forscher/
innen wie Gerhard Roth, Elizabeth Loftus oder
Allen Frances
kommen im Wechsel zu Wort. Zumeist
in strenge Kadrierungen
gefasst, erörtern
sie psychiatrische
Entwicklungstrends
und deren
Zusammenhänge.
Der Film versammelt Positionen
aus der Experimentalpsychologie,
aus den Neurowissenschaften
oder zu ganzheitlichen Therapieansätzen.
Zentraler Knotenpunkt, an dem die Fäden
auseinander- und wieder zusammenlaufen, ist die
Konstruktion
der Diagnose.
Zwischen die Sequenzen schieben sich Bildmontagen,
nicht weniger kontrastreich als das
Gesagte: Oberflächen symmetrischer Architekturen,
labyrinthische
Gänge einer stationären Einrichtung
und flächige Aufnahmen blubbernder Gewässer.
Eine Stimme aus dem Off legt sich darüber und
verweist mit fragmentierten Foucault’schen Denkfiguren
auf Hospitalisierungs- und Machtdiskurse.
Wie gegenläufig die Haltungen zu psychiatrischen
Zwangsdiagnosen sind, spitzt der Film in
einem absurd-skurrilen Moment zu: Eine Fachärztin
sichtet Videomaterial von Rudert und erstellt spontan
eine Ferndiagnose. Rudert wiederum tritt entschieden
gegen Klassifizierungssysteme und katalogisierte
Checklisten an: „Wir müssen uns enthindern.
Die ganze Diagnostiziererei ist eine Behinderung.“
Dabei, so heißt es im Film, verbuchen er und seine
Mitstreiter/innen mit ihrem Engagement bereits
politische Erfolge.
Anomalie versucht nicht, die Komplexität des
Themas auf der Leinwand aufzulösen. Vielmehr
vollzieht
Richard Wilhelmer eine filmische Suchbewegung
ohne voyeuristischen Blick, die politische
Zusammenhänge zwischen Gesellschaftspolitik und
psychiatrischer Diagnose erkundet.
(Katalogtext, jk)