Die bauliche Maßnahme
Dokumentarfilm, AT 2018, Farbe, 112 min., dOV
Diagonale 2018
Regie, Buch, Kamera: Nikolaus Geyrhalter
Schnitt: Emily Artmann, Gernot Grassl
Originalton: Eva Hausberger
Weitere Credits: Recherche, Regieassistenz
Eva Hausberger
Produzent:innen: Markus Glaser, Michael Kitzberger, Wolfgang Widerhofer, Nikolaus Geyrhalter
Produktion: NGF Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion
Großer Diagonale-Preis Dokumentarfilm 2018
Brennpunkt Brenner. Ausgehend
von der befahrbaren Grenze
zwischen Italien und Österreich
vermisst Die bauliche Maßnahme
jene Umgebung, die Schauplatz
eines innereuropäischen Politikwechsels
war. Der Raum erschließt
sich dabei durch die für Nikolaus
Geyrhalter typischen sehr genauen
Totalen und in längeren Gesprächen
mit Polizisten, Einheimischen, Wanderern,
Bauern, Gastwirt/innen und
Mautkassiererinnen. Was hier in diesem
Sammelbecken politisch-persönlicher
Haltungen sichtbar wird,
betrifft ganz Europa.
Nikolaus Geyrhalters neueste Arbeit beginnt an
der befahrbaren Grenze des Brenners, um sich in konzentrischen
Kreisen davon zu entfernen in die umliegenden
Täler und Berge, die kleinen Gemeinden und
Betriebe. Gleich am Anfang: die Totale entlang einer
Straße, die Sicht in die Tiefe und auf die Ränder verstellt
von einer Polizeistaffel in voller Kampfmontur,
vor ihr ein kleiner Zaun, hinter ihr die Berge und Täler
rund um den Brenner. Schnitt auf den Titel: „Die bauliche
Maßnahme“. Mit diesen beiden Einstellungen
markiert der Film bereits eine Haltung, stellt den exekutiven
Akt der Aufrüstung in ein Verhältnis zu einem
bürokratischen Begriff. Aus dieser heraus nimmt er
eine Region, die in den letzten Jahrzehnten eine reine
Durchgangsstation von Süd- nach Nordeuropa
war, in jenem Moment in den Fokus, in dem diese auf
Beschluss der österreichischen Regierung zu einer
innereuropäischen Grenze werden soll.
Die für Geyrhalter typischen gefühlvoll und präzis
gesetzten Totalen vermitteln entlang des Films ein
Bild von Landschaft und Struktur der Umgebung und
bilden Übergänge zwischen längeren Gesprächspassagen,
in denen die Menschen selbst von ihren
Erfahrungen und Beobachtungen, Ängsten und
Gedanken erzählen. So entsteht ein Kaleidoskop von
politischen Haltungen, das wie in angeschwemmt
(1994) oder Pripyat (1999) einen Raum über die
Erzählungen seiner Bewohner/innen sichtbar
macht. Deren Vielstimmigkeit wird in Die bauliche
Maßnahme wie selten zuvor im Werk des Filmemachers
besonders auch über Worte und Intonationen
deutlich, etwa wenn über die die Grenzen überquerenden
Menschen als „unrechtmäßig aufhältige
Fremde“, „feine Menschen“, „die mit den anderen
Sitten“ oder „die, die auch da unten bleiben könnten“,
gesprochen wird. Geyrhalter bleibt dabei ruhig, hört
jedem genau zu, fragt an entscheidenden Stellen
geschickt nach und legt so in den Sprechenden frei,
was der Kontakt mit Fremden in ihnen auslöst.
Während Geyrhalters Filme sich bisher meistens
mit dem Danach eines Ereignisses beschäftigt
haben, ist er hier dabei, während es sich ereignet. An
öffentlichen Orten berichten Fernsehen und Radio
aus dem Off von den großen Entscheidungen auf
EU-Ebene, während die Kamera das Hier und Jetzt
vor Ort ins Auge fasst. Dabei bewegt man sich im
Lauf des Films permanent durch den Raum – zu Fuß,
im Auto, im LKW, durch den Tunnel zur Mautstation –,
um zugleich von jenen zu hören, denen genau das
untersagt werden soll. Die bauliche Maßnahme – der
Grenzzaun – liegt am Ende des Films immer noch im
Container, das Denken der Menschen ist aber schon
von ihr geprägt.
(Katalogtext, ab)