Der Boden unter den Füßen
Spielfilm, AT 2019, Farbe, 108 min., OmeU
Diagonale 2019
Regie, Buch: Marie Kreutzer
Darsteller:innen: Valerie Pachner (Lola), Pia Hierzegger (Conny), Mavie Hörbiger (Elise), Michelle Barthel (Birgit), Marc Benjamin (Sebastian), Axel Sichrovsky (Herr Bacher), Dominic Marcus Singer (Jürgen), Meo Wulf (Clemens)
Kamera: Leena Koppe
Schnitt: Ulrike Kofler
Originalton: Odo Grötschnig
Musik: Kyrre Kvam
Sounddesign: Veronika Hlawatsch
Szenenbild: Martin Reiter
Kostüm: Monika Buttinger
Weitere Credits: Herstellungsleitung: Johanna Scherz
Maskenbild Maike Heinlein
Mischung: Bernhard Maisch
Produktionsleitung: Gottlieb Pallendorf
Casting: Rita Waszilovics
Connys Gedichte: Doris Kreutzer
Produzent:innen: Alexander Glehr, Franz Novotny
Produktion: Novotny & Novotny Filmproduktion
Die Unternehmensberaterin Lola
(Valerie Pachner) ist ständig
unterwegs und hat ihr Privatleben
ebenso fest im Griff wie ihre Karriere.
Vermeintlich. Der Suizidversuch
ihrer älteren Schwester Conny (Pia
Hierzegger) bringt Lolas strukturiertes
Leben ins Wanken. Mit
Sensibilität lotet Marie Kreutzer
die Grenzen zwischen Gesundheit
und Krankheit, Eigeninteresse und
Verantwortungsbewusstsein aus.
Hastend zwischen Selbst-, Prozessund
Profitoptimierung.
Im Unternehmensberater-Slang ist ein fortyeight
eine 48-Stunden-Schicht. Und diese ist in der
Branche durchaus keine Seltenheit. Um die Kund/
innen zufriedenzustellen, werden Nächte durchgearbeitet,
sexistische Kommentare und aufputschende
Präparate geschluckt. Auch Lola ist in dieser
sterilen Welt zwischen Hotelzimmer und Flughafen,
Prozessoptimierung und Telefonkonferenz zu Hause,
in der Zahlen mehr Bedeutung eingeräumt wird als
den eigenen Bedürfnissen. Sie ist erfolgreiche Unternehmensberaterin
und ständig unterwegs zwischen
Wien und den Firmen, die sie gerade umstrukturiert.
Ihr Privatleben hat sie ebenso fest im Griff wie ihre
Karriere. Mit Ende zwanzig steht sie kurz vor der
Beförderung zur Partnerin. Ihre Beziehung zu Teamleiterin
Elise hält sie geheim, auch von der Schizophrenie
ihrer älteren Schwester Conny weiß ihre
Umwelt nichts. Als diese nach einem Selbstmordversuch
in der Psychiatrie landet, gerät Lolas vermeintlich
strukturiertes Leben ins Wanken. Wie sind die
vielen Hilferufe einer Lebensmüden einzuordnen, die
doch von Medikamenten sediert in der Klinik liegt?
Lolas Geheimnis drängt ans Licht, und sie droht den
Boden unter den Füßen zu verlieren.
Marie Kreutzers grandios besetztes Drama zeigt
zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein
könnten: Die labile ältere Conny, gespielt von Pia
Hierzegger, ist kaum noch imstande, ihre Wohnung
zu verlassen. Ihr gegenüber steht Lola (einmal mehr
großartig: Valerie Pachner), die hundert Stunden pro
Woche arbeitet und dazu jeden Tag trainiert. Mavie
Hörbiger in der Rolle der Chefin Elise komplettiert
das starke Schauspielerinnenensemble. Unerbittlich
geht sie mit ihren Mitarbeiter/innen um, versucht,
Privates und Berufliches auf brutale Weise streng
voneinander getrennt zu halten. Doch wer diktiert hier
wessen Leben, und was bedeutet eigentlich leben?
Wie weit liegen Burnout und Paranoia auseinander?
Mit großer Sensibilität lotet Kreutzer die Grenzen
zwischen Gesundheit und Krankheit, Eigeninteresse
und Verantwortungsbewusstsein aus. Mit Der Boden
unter den Füßen schlägt die Regisseurin und Drehbuchautorin
dabei einen neuen Ton in ihrem Werk an:
einen ernsten, melancholischen, der der psychischen
Verfasstheit eines Menschen in einer selbstausbeuterischen
Welt gebührende Aufmerksamkeit zollt.
Raffiniert und unvorhersehbar geht sie der ewigen
Frage nach, wie viel Raum familiären Strukturen im
eigenen Leben eingeräumt werden soll und muss,
ohne die eigenen Bedürfnisse zu übergehen oder
sich aus der Pflicht zu stehlen. Und huldigt dabei dem
Kino, das wohl wie kein anderes Medium vermag,
Realitäts- und Traum-/Wahnebenen zu verschieben,
zu verkanten oder momenthaft aufzulösen. Hastend
zwischen Selbst-, Prozess- und Profitoptimierung.
(Katalogtext, ast)