Eine eiserne Kassette
Dokumentarfilm, AT/DE 2018, Farbe+SW, 102 min., OmeU
Diagonale 2019
Regie, Buch, Schnitt: Nils Olger
Kamera: Nils Olger, Juri Schaden, Thomas Marschall
Musik: Vinzenz Schwab
Produzent:innen: Nils Olger
Produktion: Nils Olger
Als sein Großvater verstirbt, findet
Nils Olger in dessen Nachlass eine
Rolle mit insgesamt 377 Fotografien,
aufgenommen beim letzten
Kriegseinsatz zwischen März 1944
und April 1945. Der Filmemacher
folgt der Spur der Negative an die Orte ihrer Entstehung. Eine
eiserne Kassette ist nicht nur die
Aufarbeitung einer Familienbiografie,
sondern thematisiert auch
die Verdrängung österreichischer
NS-Geschichte. Ein Film gegen das
Schweigen und Vergessen.
Als Olaf Jürgenssen, der Großvater des Filmemachers
Nils Olger, verstirbt, zeigt die Großmutter
dem Enkel eine bisher im Wandschrank verwahrte
eiserne Kassette mit Briefen, Ausweisen und ein
paar Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg: „Da hast
du nun all unsere Geheimnisse.“ Im Nachlass des
Verstorbenen findet Olger eine Rolle mit unbeschrifteten
Kleinbildnegativfilmen. Insgesamt 377
Fotografien sind es, aufgenommen beim letzten
Kriegseinsatz des Großvaters zwischen März 1944
und April 1945. Um zu erfahren, was der Großvater
nach dem Krieg im Verborgenen halten wollte, folgt
Olger der Spur der Negative und begibt sich an
die Orte ihrer Entstehung. Eine Reise, die ihn von
Österreich nach Ungarn und Italien führt. Als Arzt
der Aufklärungsabteilung der 16. SS-Panzergrenadier-
Division „Reichsführer SS“ war der Großvater
eingerückt. Jener Einheit, die die schlimmsten
Kriegsverbrechen von NS-Truppen an der Zivilbevölkerung
auf italienischem Boden verantwortete.
Und jener Einheit des einstigen SS-Kommandeurs
Walter Reder, der – verurteilt als Kriegsverbrecher
vor einem Militärgericht in Bologna – unter skandalösen
Umständen 1985 nach Österreich zurückkehrte
und vom damaligen Verteidigungsminister
Friedhelm Frischenschlager mit einem Händedruck
in Empfang genommen wurde.
Entlang der Fotografien gelingt es Nils Olger,
den Weg seines Großvaters präzise und chronologisch
nachzuzeichnen. Station für Station untersucht
er die fotografischen Perspektiven und die gezeigten
Motive: Landschaften, Gebäude, Bevölkerung und
Kameraden. Als Stimme aus dem Off arbeitet der
Filmemacher gegen die Leerstellen und Auslassungen
seiner Familienbiografie an, die den stummen
Bildern innewohnen. Mit penibel recherchierten Zahlen
und Fakten setzt er die Momentaufnahmen in
den Kontext der dahinterliegenden Schreckensgeschichte
der NS-Einheit. Er spricht mit Menschen
vor Ort – auch mit Zeitzeug/innen, die das mehrere
Tage andauernde Massaker in Vinca im August 1944
überlebten. Ein Bild von Olaf Jürgenssen aus dieser
Gegend zeigt die umliegende italienische Berglandschaft
in erschütternd unberührter Idylle.
Wenige Jahre vor dem Tod des Großvaters, als
die eiserne Kassette noch im Wandschrank lag, hatte
sich der Filmemacher bereits für dessen Kriegsvergangenheit
interessiert. Auszüge aus dem dabei
entstandenen Videomaterial montiert Nils Olger in
seinen Film: Ausweichend und lückenhaft beantwortete
Jürgenssen damals die Fragen des Enkels. Eine
eiserne Kassette ist nicht nur die Aufarbeitung einer
persönlichen Familienbiografie, sondern thematisiert
auch die Verdrängung österreichischer NS-Geschichte.
Ein Film gegen das Schweigen und Vergessen
– in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.
(Katalogtext, jk)