März 2010, Berlin. Der Chef des Babylon-Kinos wähnt sich glücklich, dem geschätzten Publikum den „weltbesten Stummfilm-Pianisten“ ankündigen zu dürfen, der gleich dazu anheben wird, die restaurierte Fassung von Fritz Langs Metropolis musikalisch zu begleiten. In der festen Überzeugung, dass die Kombination von Stummfilm mit Klavier die langweiligste überhaupt wäre, lächle ich müde, drücke mich gemütlich in den Kinosessel und freue mich auf die neu hinzugefügten Filmsequenzen. Aus dem Augenwinkel sehe ich im Halbdunkel Neil Brand händereibend zum Klavier gehen, er setzt sich, beginnt zu spielen – und mein Lümmeln hat sofort ein Ende. Was für eine Energie, was für ein Sound! Kein triviales Geklimper, nicht eine Sequenz, in der sich der Musiker auf die Kraft der Bilder verlässt, um selbst ein wenig auszuruhen. Immerhin dauert der Film in dieser Fassung 145 Minuten. Ein klug eingesetztes Dies Irae ausgenommen, verwendet Neil Brand auch keine Zitate. Musik, die gut vorbereitet und doch spontan gesponnen wird. Motive, die zu Beginn entwickelt im Nachspann noch einmal erklingen. Keine Zusatzinstrumente, keine Elektronik, keine Effekte, lediglich ein Pick-up-Mikrofon unter den tiefen Klaviersaiten, das großartige flächige Klänge unterstützt. WOW!
Bis zu diesem Erlebnis war ich überzeugt, dass vor allem elektronische Musik alte Stummfilmbilder neu beleben könnte, wie es z.B. Gustav Deutsch in Film ist. 7–12 (2002) mit den Musikern Werner Dafeldecker, Christian Fennesz, Martin Siewert und Burkhard Stangl gezeigt hat. Oder gemischtes Ensemble, wie bei Iris ter Schiphorst in ihrer Neuvertonung des surrealen Films La coquille et le clergyman (1928) von Germaine Dulac. Oder Orgel und Synthesizer, gespielt von Wolfgang Mitterer bei seiner Live-Performance zu Nosferatu (F. W. Murnau, 1922) im Wiener Konzerthaus. Dieses Erlebnis ist mir besonders in Erinnerung geblieben, waren doch Ton und Bild nur ganz selten synchron, Pferde galoppierten, Sturm heulte, alles, was im Bild zu sehen war, kam auch im Ton vor, allerdings dann, wann Mitterer es wollte. „Schädeldeckehebend“ betitelte Claus Philipp damals seine Kritik im Standard.
Stummfilme schaue ich mir durchaus gerne auch unvertont an – eigentlich würde mir das Projektorengeräusch, zu dessen Übertönung die Filmmusik ja eigentlich eingeführt worden ist, gut gefallen. Und das herrliche Zischen von Kohlebrennstäben, die einen Lichtbogen erzeugen … Das soll aber nicht heißen, dass ich eine totale Nostalgikerin wäre, mir ist wichtig, Kino zu spüren, ich freue mich über eine große Leinwand und einen klaren Ton ohne viele Faxen. Im Wellenfeldsynthesesaal der Berliner TU wird mithilfe von 2.500 Lautsprechern u.a. an der Verfeinerung des Kinotons gearbeitet. Dort können Klänge virtuell in den Raum gerückt werden, um quasi direkt am Zuhörer vorbeizuschwingen. Mir taugt es eigentlich mehr, wenn beim Zusehen und -hören das Hirn selbst an einer Synthese arbeiten darf, auch ohne Wellenfeld.
Mit dem Verhältnis von Bild zu Klang ist es halt so eine Sache: Im realen Leben irritiert es mich sehr, wenn die Tonspur nicht zum Bild passt. Einmal ganz abgesehen davon, dass ich Kopfhörer nicht leiden kann, wäre ich überhaupt nicht in der Lage, mit Musik im Ohr eine noch so schmale Straße zu überqueren. Radfahren oder Skaten mit Ohrstöpseln sind für mich völlig undenkbar.
Bei aktuellen Spielfilmen tue ich mich meistens schwer, wenn Musik verwendet wird, die es bereits gibt. Am liebsten ist mir, ganz dogmatisch, wenn Musik nur dort vorkommt, wo sie auch mit dem Bild etwas zu tun hat. Oder wenn es eben neu komponierte Filmmusik gibt. Grässlich, diese ganze missbrauchte Klassik, angefangen von Schuberts Streichquintett über das Adagietto von Gustav Mahler bis zum völlig abgelutschten Klarinettenkonzert von Mozart. Apropos Mozart, ein Film fällt mir doch ein, bei dem ich die Mozart-Spur witzig fand: Michael Nyman hat bei Peter Greenaways Drowning by Numbers (1988) eine leicht bearbeitete Version der Sinfonia Concertante für Violine und Viola eingesetzt. Sehr schräg, zumal mir bei dieser Musik niemals ertrinkende Männer eingefallen wären!
Eine große Überraschung erlebte ich bei Shutter Island (2010) von Martin Scorsese. Der Film spielt im Jahr 1954 und Scorsese verwendet für den Soundtrack viele Kompositionen aus den 1950er Jahren: Stücke von Krzysztof Penderecki, John Cage, Giacinto Scelsi, Alfred Schnittke, György Ligeti, Morton Feldman und vielen anderen, die sich der Großteil des Kinopublikums wohl ohne die laufenden Bilder kaum anhören würde. In diesem Fall stört es mich auch weniger, dass die Musik bereits vorhanden ist und für den Thriller funktionalisiert wird, obwohl ich der Handlung kaum folgen konnte, weil ständig damit beschäftigt, das Gehörte zu verarbeiten und zuzuordnen.
Zum Schluss noch einmal Metropolis: Im Jänner 2004 spielte das Klangforum Wien die Vertonung des Films, die Martin Matalon 1999 im Auftrag des IRCAM erstellt hatte. Ich fand die Musik ziemlich langweilig, zumal die eingesetzte Elektronik die Maschinenbilder bloß verdoppelte. Doch dann, in der Szene, in der Maria mit den Kindern flüchtet und die Alarmglocke betätigt – plötzlich Stille. Keine Musik, kein Geräusch, nur Herzklopfen und Atmen im Großen Saal des Wiener Konzerthauses. Mutig, dachte ich mir, dort, wo die Spannung steigt, einfach Stille einzusetzen, das imponiert mir aber gewaltig.
Nach der Vorstellung verriet mir eine Musikerin des Ensembles, dass diese Stille ungewollt eingetreten war. Das Ensemble war zu flott unterwegs gewesen, der Dirigent hatte bloß auf den Beginn des nächsten Akts gewartet. Ja, die Stille kann halt schon viel!