Diagonale
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Diagonale-Webnotiz 1/2011

von Sebastian Höglinger

 

arbeitet in der Diagonale-Presseabteilung.

Die glücksversprechende Unlust auf Neues – Festival und Medienwerden.

Im Juni 2002 saß ich im hochgradig unterschätzten Stadionbad in Wien und ackerte mich durch ein Sammelsurium an tendenziell pseudowissenschaftlichen Überlegungen. An jenem Tag, und mitten in diesem soliden Ambiente, sollte ich auf mein bis heute meistgeliebtes Buch stoßen, einen 1872 verfassten, weitgehend unbekannten utopisch-wissenschaftlichen Dialog mit dem Titel „Lumen – Histoire d’une Âme“. Dieses Buch gab und gibt mir zu denken, sind doch darin filmische Wahrnehmungsformen beschrieben, wie sie erst gut 20 Jahre später durch die Realisierung der technischen Kinoapparatur – freilich weit weniger abgedreht – aus der Welt des Utopischen ins Tatsächliche übergingen. Man kann aus den darin formulierten Überlegungen jedenfalls auf die Existenz einer Art kinematographischen Bewusstseins vor technischer Realisierung der Kinoapparatur schließen. Auch Träume und die Formulierung von (Un-)Möglichkeiten waren beteiligt, am Entstehen von Kino und der Faszination Bewegtbildprojektion.

Ein solcher Fund zeigt, dass Film und Medien nicht von heute auf morgen entstehen oder entstanden sind. Das Datieren einer einzig gültigen Geburtsstunde (und immer wieder grüßen die Gebrüder Lumière) wird demnach widersinnig. Jedes Medium ist ständiger Veränderung unterworfen, einem stetigen Werden, und hat demnach mannigfache „Ursprünge“. Nichts ist von heute auf morgen, alles wird.

Nun ist es aber so eine Sache mit dem Werden, das sich ja scheinbar still und heimlich, jedenfalls aber beständig vor unserer Nase vollzieht. Ich habe meine Schwierigkeiten mit dem angeblich (technisch) „Neuen“ – der Sichtbarwerdung einer Idee, die sich seit Ewigkeiten aktualisiert und im Moment ihres Auftauchens eigentlich schon längst wieder im Wandel begriffen ist. Wenn etwa die Plattennadel mit einem kratzigen Ruck in die Rille des Vinyls taucht und bei gleichförmiger Rotation desselben Töne erklingen, bin ich jedes Mal aufgeregt wie ein kleines Kind. Bis heute besitze ich keinen MP3-Player, mein CD-Fach fristet ein ruhiges, bedrückend einsames Dasein und meine iTunes-Bibliothek beschränkt sich auf knappe zehn Titel. In meinem Wohnzimmer herrscht, zumindest was technische Innovationen betrifft, Stillstand, eine andere Zeit. Ähnlich verhält es sich mit meinem Kino-Konsumverhalten. Wenn das Licht im Saal erlischt und ein 35mm-Projektor zu surren beginnt, entlockt es mir nach wie vor das rasendste Hochgefühl. Das ist mein Kino, wie ich es kenne, wie ich es liebe; trotz aller Wiederholbarkeit immer einzigartig. Kurz: Ich würde mich an der Kinokassa niemals für die angeblich ausgereiftere, digitale Projektionsweise entscheiden (und auch 3D-Brillen sind mir ein wahrer Graus).

Vielleicht benötigt es ein auffälligeres Nebeneinander verschiedenster Film- und Projektionsstile, um die Wahrnehmung des stetigen Werdens von Film und seiner Trägermedien auch für Ignorant/innen wie mich, zu schärfen; ein Nebeneinander wie es mitunter ein Filmfestival begünstigt. Hier läuft 16mm- neben 35mm-Film, werden Beta-Bänder, Server-Einspieler und im Notfall auch mal DVD- oder Bluray-Daten gezeigt. Wenn die Diagonale in Graz Einzug hält, müssen die Projektoren in den Kinos, je nach filmischer Anforderung, dem eigenen Equipment weichen und/oder adaptiert werden; das alles harmonisch und unbemerkt, um eine möglichst optimale Projektion zu gewährleisten.

Dieses Nebeneinander verschiedenster Techniken befindet sich zurzeit wahrscheinlich auf einem Höhepunkt. Wenn einmal ein international gültiger und vor allem finanziell erschwinglicher Standard digitaler Projektion installiert ist, wird der Filmstreifen in seiner Materialität wohl noch deutlicher den Nullen und Einsen weichen, als er das heute schon tut.

So möchte ich in den nächsten Jahren noch einmal gezielt hinschauen, was mir auf der Diagonale oder anderswo vorgeführt wird. Und wenn ich Glück habe, hat der/die Vorführer/in keines und ich erlebe noch einige letzte Filmrisse (gerade im Rahmen von Retrospektiven ein durchaus häufiges Vergnügen). Nichts schöner als jener an sich zu vermeidende Augenblick, in dem sich die Materialität des Filmstreifens samt der von Bildstrichen getrennten Kader für einen kurzen Moment auf der Leinwand zu erkennen gibt – bevor letztere ganz weiß bleibt.

Abschließend soll doch noch gemutmaßt werden, dass ganz so wie das Vinyl wohl auch der „gute, alte“ Analogfilm nicht vollständig von der Bildfläche verschwinden wird. Dazu birgt dessen Materialität viel zu viele Möglichkeiten; insbesondere im weiten Feld des Experimentalfilmschaffens. Gut so. Und wenn mir meine Kinder und Enkelkinder dann in hoffentlich nicht allzu naher Zukunft ihre kuriosen neuen Medien vorführen, werde ich – in über Generationen hinweg überlieferter Tradition – nur verwundert schmunzelnd den Kopf schütteln. Im Hintergrund zieht derweilen die Plattennadel emsig ihre Kreise. Alles beim Alten.

 

Die Diagonale-Webnotizen wurden von 2010 bis 2015 von der BAWAG P.S.K. unterstützt.

Der Standard ist Medienpartner der Diagonale-Webnotizen.
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