Für die Diagonale 2004 wurde von KINOKI und anderen unter dem Titel „Filme, die wir nicht sehen können“ ein Sonderprogramm kuratiert, das auf einige blinde Flecken der österreichischen Kinematographie hinzuweisen versuchte. Seither wuchs der Hunger auf Filme, die noch nicht gefilmt wurden. Zum Beispiel die folgenden:
More of this
Michelangelo Antonioni führt in Professione: Reporter (US/IT/FR/ES 1975) exemplarisch die historisch notwendige Umkehrung des kolonial geprägten Blickregimes vor, wenn James Campbell als „african witchdoctor“ dem Fernsehjournalisten Jack Nicholson die Kamera aus der Hand nimmt und auf ihn dreht. Doch offensichtlich ist es einfacher, die Kanonen umzudrehen, als die Kameras.
Was Das Fest des Huhnes (R: Walter Wippersberg, AT 1992) als viel zu versöhnliche Groteske versuchte, was der sehenswerten Doku Here to stay von Markus Wailand beinahe gelang: More of this vollzieht es: Mit Fanonscher Unerbittlichkeit die filmische Entkolo- nialisierung Österreichs zu betreiben. Der Trick der Neofilmemacherin Belinda Kazeem ist einfach: Sie bat Afro-ÖsterreicherInnen mit 15 prominenten und mächtigen Menschen Platz zu tauschen. Wilfried Kovarnik, Chef der Wiener Fremdenpolizei räumt seinen Amtsessel für den Völkerrechtler und BUNTE-ZEITUNG-Chefredakteur Di-Tutu Bukasa, Wissenschaftsministerin Karl inauguriert den Philosophen, Kunsthistoriker und Theologen Espérance-François Bulayumi als neuen Rektor der Uni Wien, Burgtheaterchef Herrmann muss wegen Spießigkeit und eurozentrisch bornierter Fadesse seinen Job an den kongolesischen Theatermeister Faustin Linyekula übergeben, der verspricht, „ein Burgtheater für alle zu gestalten, dessen Niveau durch einen kosmopolitischen Ansatz endlich auf ein einer Weltstadt würdiges Niveau gehoben wird“. Die Grünen wählen die „Austro-Bamileke“ Marie Edwige Hartig zur Bundessprecherin und auf dem ÖGB Bundeskongress wird die Freedom-Fighterin Beatrice Achaleke, zur Chefin des Gewerkschaftsbundes gekürt. Heinz Fischer freut sich in einer Pressekonferenz über den Regierungsbeschluss, die fremdenrechtlichen Agenden dem Innenministerium wegzunehmen, um sie einem neu zu schaffenden Migrationsministerium anzuver- trauen und gelobt vor laufenden Kameras die Kultur- und Gesellschaftskritikerin Araba Evelyn Arthur Johnston als Migrationsministerin an, die in ihrer Antrittsrede eine Wiederaufnahme der Verfahren in den Fällen Marcus Omofuma, Seibane Wague und Edwin Ndupu ankündigt.
Doch der Film blickt nicht auf die afrikanischen oder afro-österreichischen ProtagonistInnen, er beobachtet ausschließlich die Reaktionen von Weißen auf die Obamasierung Österreichs. In Tiroler Gaststuben und türkischen Kulturvereinen, in der U-Bahn vorm Wien-Screen und im Jugendzentrum, in Betriebskantinen, im Lionsclub, im Pilatesstudio und auf der Lehrerkon- ferenz, bei der Freiwilligen Feuerwehr Frastanz und nach der Chorprobe in Pörtschach: Die bescheidene, unaufdringliche Kamera beobachtet die ungläubigen, panischen, freudigen oder verstörten Reaktionen der Menschen auf die Meldungen und zeichnet so eine oft subtile Analyse von Xenophobie. Ein Protokoll der Vorurteile und Vorbehalte, ein exaktes Psychogramm rassistischer Dispositionen. Warnung: Was als genial simple Versuchsanordnung zur Lächerlichmachung dummer Vorurteile beginnt, verdichtet sich nach und nach zu einem Horrortrip in die schwarzen Löcher der weißen Seele. Je weiter der Film fortschreitet, umso tiefer zieht er uns in die sumpfigen Untiefen postnationalsozialistischen oder großserbisch-faschistischer oder standesdünkelischer Ressentiments, die sich oft demaskieren als zu jeder Gewalttätigkeit entschlossene Bereitschaft, Frustration und Lebensunglück als Hass und Neid auf „die Schwarzen“ zu entladen. Gegen Ende wartet der Film noch mit einer erstaunlichen Wendung auf, die hier nicht verraten sei. Empfehlung: Nachher mit jemand ganz, ganz liebem auf ein Achterl gehen. Sie werden Trost nötig haben.
Tschuschinnenpower
Im Fernsehen: die Teile 6–10 von Tschuschenpower, in denen Jakob M. Erwa seine Kultjugendserie zu erstaunlicher Präzision und Glaubwürdigkeit katapultiert. Nach den Abenteuern der Tschuschen- bubengang in den ersten fünf Teilen sind nun die Mädchen die Protagonistinnen, um die sich alles dreht. Die Inszenierung geriet dank Co-Regisseurin Asli Kislal frecher, Kameramann Gerald Kerkletz wechselt souverän die Register, Rebecca Chelbea als Leyla und Duygu Arslan als Sibel spielen umwerfend, die Mitarbeit der „Migrationshintergrund“-Autorinnen Alma Hadzibeganovic und Seher Cakir am Drehbuch gibt den Mädchengeschichten Eigensinn und frechen Witz und sorgt dafür, dass allzu platte Multikultiklischees, über die man in den ersten fünf Folgen noch manchmal stolperte, vermieden werden und die himmelhoch jauchzend zu Tode betrübte, süchtig machende Mischung aus Soap und Drama gelingt. Vor allem die Teile 8 bis 10 liefern die lange entbehrte Perspektive „der Subalternen“, wie die Philosophin Gayatri Spivak die Powertschuschinnen nennen würde, auf Wien. Mehr davon bitte!
34
Michael Scharangs wunderbares Fernsehspiel Die Kameraden des Koloman Wallisch hat 26 Jahre nach seiner Fertigstellung eine würdige Fortsetzung gefunden. 34, der historische Film von Stefan Hafner, setzt dort an, wo Deleuze erklärt: „Wenn es ein modernes politisches Kino gibt, dann auf der Basis, dass das Volk fehlt.“ Hafner erspart uns Barrikaden- romantik und Heimwehrmarschrhythmus. Es geht ihm nicht darum, verklärend den Moment zu romantisieren, in dem eine Formierung eines roten Volkes möglich gewesen wäre, die vielleicht die verheerenden Formierungen des schwarzen und später des braunen Volkes verhindern hätte können, sondern die Bedin- gungen der Möglichkeit von Widerstand sichtbar zu machen.
Nach akribischen historischen Recherchen rekonstruiert Hafner Dutzende von Momenten der Entscheidung: die Besprechungen der Linzer Sozialisten um Richard Bernaschek im Hotel Schiff und der Wiener Parteileitung um Otto Bauer und Julius Deutsch, Diskussionen in Schutzbundortsgruppen und Parteigremien der SDAP und der KPÖ, Betriebsräte- versammlungen, auf denen beschlossen wird, ob man sich dem Streik anschließt oder nicht, Streit in Familien darüber, ob Vater, Mutter oder Kinder sich an den Kämpfen beteiligen sollen.
Die Gegner interessieren Hafner nicht, er richtet seinen Blick ausschließlich auf die möglichen Protago- nistInnen des Widerstands. Wieso hat sich wer zum Kampf oder dagegen entschlossen? Die Antworten sind so vielfältig wie die Situationen und lösen „das Volk“ auf in Minoritäten und Positionen, in Gründe und Ängste, in Nichtwissende und Ahnende, in Informierte und von der Information Abgeschirmte, in selbstständig zum Handeln Bereite und auf Anordnungen Wartende.
Hafner verzichtet auf jegliche historische Verkitschung. Die Räume und Kostüme sind schlicht und zeitlos, die DarstellerInnen Laien, die bereit waren, sich ein Jahr lang intensiv mit dem Feber 1934 und dem Weg dorthin auseinanderzusetzen und die danach besetzt wurden, wie vertraut ihnen die zu spielende Situation aus ihrer eigenen Lebenserfahrung ist.
Inspiriert wurde Hafner von Peter Watkins Film über die Pariser Commune und doch beschreitet sein Vorgehen den entgegen gesetzten Weg.
Wo Watkins seine Akteure zur revolutionären Menge werden lässt, bleibt Hafner immer ganz genau bei der und dem Einzelnen, die jedoch immer Teil eines gesellschaftlichen Zusammenhanges bleiben, so dass Geschichte nicht privatisiert wird, sondern im Gegen- teil, sehr präzise und genau die Mikromaschinen der Macht, die die Entscheidungen der Einzelnen regieren, erkennbar werden.
34 ist ein Dokumentarfilm über die intensive Beschäftigung einer Gruppe von Menschen mit dem Feber 1934, könnte man sagen. Aber wer würde da die dramaturgisch elegante Montage der Situationen zum spannenden Geschichtsthriller erwarten?
Ein historischer Spielfilm könnte man sagen, aber wer traut einem Spielfilm eine derart streng auf die strikte Vermeidung jeglicher Täuschung und Verführung abzielende Offenlegung seiner Machart zu?
Auf jeden Fall: ein dringend notwendiger Film, nach dem die österreichische Kinematographie viel zu lange hungern musste.