Bilder, die jenseits der Geschichte liegen, Details, die nichts anderes sind als die Oberfläche des Lebens, ein Schnitt auf die leere Sitzbank in einer Bar in In the Cut von Jane Champion. Der Mann, der vor ein paar Minuten noch dort saß (bevor Frannie im Keller eine Fellatio beobachtet), ist verschwunden, der Blick der Protagonistin fällt auf das Wandgemälde, groß: ein Loch im Ablauf des Films, ein Blick ins Nichts. Keine Metapher, kein Symbol – einfach nur eine abblätternde Wand, die schemenhaft eine männliche Figur zeigt. Was wird hier dargestellt? – Wir erfahren keine Aufklärung. Oder: das sehr nahe Detail der stählernen U-Bahn New Yorks, abstrakte Bildspur ohne Auftrag.
Nicht interpretierbar, nicht der Geschichte unterworfen, nicht von der Logik der Erzählung versklavt. Ein Bild im Film, das ausschließlich auf sich selbst verweist.
Wie: die Stillleben Ozus – das Leuchtschild der Bar, ein am Kleiderbügel hängender Kimono, die Schlote, der leere Korridor.
Auch, der Anfang von Götz Spielmanns Revanche: Die stille Oberfläche des Teiches, in die dann der Stein fällt – das plötzliche Ereignis. Der Schock.
Lost in Translation von Sophie Coppola führt in die Verwirrung der Zeichen, Unübersetzbarkeiten, Mauern aus einer anderen Sprache, einer anderen Kultur, wobei das ANDERE jenseits der eigenen Erfahrungswelt auch als eine Form von Göttlichkeit gesehen werden kann. Die Parallelwelt zum rational Erfassbaren. Auch zum Erzählbaren. Hingegossen in eine Fremdheit, existentiell gestrandet in Tokio, wo Charlottes Gefüge auseinander bricht. Aus diesem Brachland inmitten der pulsierenden Stadt, aus diesem Rätsellabyrinth entsteht die Liebe als EREIGNIS versus STRUKTUR. Ereignisse sind weder beliebig wiederholbar, noch intentional herstellbar. Kein Regelwerk. Es passiert.
Der knorrige Ast in Großaufnahme, der Raubvogel, der in die Kamera blickt, ein Regentropfen, der sich mit atemberaubender Langsamkeit von einem Blatt löst – Badlands von Terrence Malick führt von einer Kleinstadt in South Dakota in die weite Landschaft, am Ende bis in die Berge Montanas. Für eine kurze Zeit ist eine Idylle möglich: Das Liebespaar lebt das Leben von Kindern im Baumhaus, sich im Bach spiegelnd. Bald werden Kopfgeldjäger dieses Inselreich stören, bald wird eine Reihe von Menschen durch die Kugeln aus Kits Gewehrlauf hingestreckt. Aber noch existiert das Leben in seiner Freiheit, jenseits einer Effizienz, auch der Effizienz der Geschichte des Films: der Flügel des Vogels im Detail, das Gegenlicht, das verzaubert, traumgleich, aus der Zeit genommen. Die Zeitinsel.
Außerhalb des Sinnzusammenhangs: die Insel Sealand, die Principality, der souveräne Staat auf offener See, eine Skulptur aus Rost und Männerphantasie, ein Monument des hoffnungsvollen Zerfalls. Ein Widerspruch in sich. Einst eine Raketenabschussrampe im Zweiten Weltkrieg, jetzt die Ikone des Widerstands gegen eine überregulierte Welt. Empire Me, der Dokumentarfilm, das Pop-Märchen von Paul Poet, eine Reise in unbekannte Welten, Communities, die doch nichts anderes sind als Seelenzustände, Dispositionen des Seins. Oder sind es die Seelenzustände, die ihre Formen im Außen suchen? Wer schafft aus der sinnlichen Wahrnehmung den Sinn? Ist es das Pathos einer vermeintlichen Geschichte? Die Intention des Betrachters? Was will uns der graue Nebel 10 Kilometer vor der Küste von Suffolk erzählen? Gibt es einen Erzählstrang jenseits davon, dass es kalt und feucht ist?
Die unscharfe Straßenbeleuchtung in der Nacht. Die Kamera gleitet mit leichten Tanzschritten über die Lichter. Die Nachbilder brennen sich in die Linse. Nichts. Ein Weg, eine Fahrt, ein Zwischenraum, eine Zeit außerhalb des Programms: Hanna und Lea leben in einem 24-Stunden-Käfig, in dem Zugriffe der Männer, die Sex kaufen wollen, jederzeit möglich sind. Sexarbeiterinnen in Tag und Nacht von Sabine Derflinger. Das Leben als Dienstleistung, prekär aber frei, frei aber jederzeit abrufbar, instabil aber nicht langweilig, das Begehren treibt an, ohne dass sich die Lust einstellt. Du wirst, was du tust, dein Handeln schafft deine Persönlichkeit, deine Stellung in der Welt gräbt sich in deinen Körper und deine Seele ein. Es gibt kein Entrinnen aus dem Hier und Jetzt. AUSSER: im abstrakten Blinken der vorbeiziehenden Neonröhren, in der Nacht, die den schwarzen Samt ausbreitet und die banalen Formen verdeckt. Im coolen Beat der Electronik.
Das Auto eines Mädchens hat einen Schaden und will nicht weiter. Wendy bleibt so auf ihrer Reise nach Alaska in Oregon stecken. Sie will in den Norden, weil sie gehört hat, dass es dort noch Arbeit gäbe. Wendy & Lucy von Kelly Reichardt porträtiert die USA als ein Land, aus dem alle Hoffnungen abgefahren sind. Wendy ist mit ihrem Hund Lucy unterwegs, der abhanden kommt, nachdem sie wegen Ladendiebstahls verhört wird. Damit ist Wendy angekommen in einer Region, die trotz ihrer Konturlosigkeit und Weite ein Hochsicherheitsgefängnis darstellt, mit dem einzigen Unterschied, dass es hier keine Essensausgabe und keinen Schlafplatz gibt. Lächerlich klein ist das Diebesgut – unverhältnismäßig das Verhör und die Strafe. Unverhältnismäßig auch der Ehrgeiz des jungen Kaufhausdetektivs, der Wendy nicht laufen lässt. Vielleicht will er seine Arbeit überkorrekt machen, weil er wenigstens eine Arbeit hat? Der Hund bleibt lange verschwunden, der Hund als unschuldiges Wesen, als Wildheit, als das vertraute Fremde, als verspielte Kreatur, die sich der Vereinnahmung durch „Sinngespinste“ widersetzt.. Als „das Andere“.
Der 90-jährige Joris Ivens steht in der Wüste im Wind, seine weißen langen Haare flattern, er lächelt das poetische Lächeln eines Wesens, das sich hingibt. Der feine Sand surrt eine endlose Melodie, die Vorstellung, dass er wie kleine Messerstiche in jede Pore der Haut, in die Augen, die Nase eindringt, einem den Atem nimmt, ist schmerzlich. Und dennoch: Ein Mann steht am Rande seines Lebens, oder sitzt auf einem seltsamen Stuhl auf der Düne, es gibt keine aktuelle Geschichte, die er jetzt noch erzählen will, keine Demarkationslinie zwischen Nord- und Südvietnam, wo er 1968 für Le 17e parallèle: La guerre du peuple direkt im Kriegsgeschehen filmt. Jetzt macht er einen Film über den Wind, Une histoire de vent, und er macht ihn weit von einer wissenschaftlichen Dimension entfernt, er lässt das Element Wind sprechen, für sich, aus sich heraus, ohne Kategorisierung, Benennung, analysiert nicht, informiert nicht, sondern zeigt, bringt zum Hören. Das Phänomen. Ohne Kitsch und ohne Pathos, mit humorvollen Wartezeiten, die die Filmcrew in der Wüste verbringen muss, bevor der Wind endlich aufkommt: wie ein hoher Gast, der geplanterweise seinen Auftritt verzögert, damit die Spannung im Publikum steigt. Als der Sandsturm dann da ist, verwischt er die Bilder, verkracht den Ton, wirft den Sessel mitsamt dem alten Regisseur um – das Ende/der Tod wird im Lachen passieren.
* (Peter Handke, Ein Jahr aus der Nacht gesprochen)