Diagonale
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Diagonale-Webnotiz 14/2010

von Bert Rebhandl

 

lebt als freier Journalist (FAZ, Der Standard, u.v.a.), Autor und Übersetzer in Berlin. Er ist Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschrift CARGO Film Medien Kultur und der Seite www.cargo-film.de

Kleine Beweglichkeiten

Ein Vorsatz für 2011: Mein Ohr für das Österreichische zu schärfen

Zu meinen guten Erinnerungen an 2010 gehört eine Stunde auf einem Flug von Berlin nach Wien, in der ich Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ zu lesen begann (mit dem ich insgesamt eines meiner größten Lektüreerlebnisse hatte). Der wichtigste Protagonist, der spätere Major Melzer, wird dabei anlässlich einer Ankunft mit dem Zug in Wien so beschrieben: „In einem besseren Roman wären jetzt die Gedanken des einsamen Reisenden während seiner Fahrt nach Wien zu erzählen und notfalls aus der betreffenden Figur herauszubeuteln und hervorzuhaspeln. Bei Melzer ist das wirklich unmöglich; von Gedanken keine Spur; weder jetzt, noch später, nicht einmal als Major. Zum ersten Mal hat er sich unseres Wissens was gedacht bei einem schon sehr vorgeschrittenen und ernsten Anlasse seines Lebens, den wir noch kennenlernen werden: und dabei hat er’s gründlich besorgt; er hat sein Pulver nicht vorzeitig verschossen in kleinen Beweglichkeiten und Geistreicheleien.“

Diese Stelle habe ich mir damals notiert, weil sie mir in mehrfacher Hinsicht interessant schien. Ich sehe darin einen Gedanken über die intellektuelle Substanz des Österreichischen versteckt, einer vom Deutschen ja deutlich unterscheidbaren Sprache, von der man immer wieder meint, sie würde sich gerade durch „kleine Beweglichkeiten und Geistreicheleien“ auszeichnen. Wenn man in Deutschland lebt, wird man häufig die Erfahrung machen, dass das österreichische (genauer müsste man wohl sagen: das wienerische) Idiom als erfreulich empfunden wird, allerdings ist das ein wenig so wie mit einem treuherzigen Hund, dem man unwillkürlich das Goderl kratzt.

Die vielen Verkleinerungsformen, eine gewisse Verlangsamung der Sprachmelodie, die originellen Entlehnungen beim Verunglimpfen (von „Nudlaug“ bis „Fetzenschädel“, unübertroffen kanonisiert durch Edmund Sackbauer), und generell eine große Flexibilität beim Einwienern von Vokabeln aus vielen, vor allem osteuropäischen bis asiatischen Idiomen – das alles hat das Wienerische zu einer eigenen Sprache werden lassen, an der ich auf eine Weise hänge, die mir als Oberösterreicher aus der Region Pyhrn-Eisenwurzen ja nicht angeboren war.

In den letzten Jahren habe ich immer wieder darüber nachgedacht, warum dem Deutschen insgesamt jene Flexibilität zu fehlen scheint, die wir beim Englischen tagtäglich im Kino und in den vielen sehr guten Fernsehserien der neueren Zeit beobachten: Dort wird eine Sprache gesprochen, die sich ständig entwickelt, in der es nie darum geht, „richtig“ zu sprechen, sondern originell. Wer sich der Übung unterzieht, eine Serie wie The Wire mit den Untertiteln der Originalfassung anzuschauen, wer also gewissermaßen bei der Verfertigung des sprachlichen Ausdrucks mitliest, wird feststellen, dass die Sprache hier nie als (nationaler) Besitz, sondern immer als Material für individuelle Aneignung verstanden wird.

Das hat natürlich mit einer „ethnisch“ differenzierten Bevölkerung zu tun, aber auch mit einer anderen Auffassung von „Leitkultur“ – die gibt es nämlich so nicht, wie sie in Deutschland und auch in Österreich immer wieder gefordert wird. Beim Lesen von Doderer fiel mir plötzlich auf, was mir aus all den österreichischen Filmen, die ich in den letzten Jahren gesehen habe (darunter um die 100 aus der Edition Österreichischer Film), schon hätte klar sein müssen: Das Wienerische ist, obwohl es sich dabei im Vergleich zum Englischen bzw. Amerikanischen um eine kleine Sprache handelt, in vergleichbarer Form beweglich.

Es wühlt im Untergrund der Hochsprache, es zerlegt die eindeutigen Zuordnungen von Begriffen zu Dingen, es ist im Grunde immer ein bisschen Avantgarde, und auf jeden Fall „multikulturell“. Ich lebe seit elf Jahren in Berlin und habe in dieser Zeit beobachtet, wie das Hochdeutsche als Sprache der politischen Vernunft immer mehr ausgedünnt wurde (und wie es als Literatursprache weit hinter den Anspruch zurückfiel, die Totalität der Wirklichkeit in sich zu begreifen).

In all diesen Jahren habe ich die Sprache, die mich in Wien in den wesentlichen Jahren meiner Bildung zum ewigen Studenten umgeben hat, für mehr oder weniger selbstverständlich genommen – einen Besitz, der mir ein behagliches Gefühl im „Ausland“ gibt, wenn ich mit einem Freund wie Roland Koberg wieder einmal darüber scherze, wie viele kleine Beweglichkeiten wir in den vielen österreichischen Synonymen für ein schnödes deutsches Wort wie „aufschneiden“ (nicht die Wurst) finden. Aber ich glaube, es wird Zeit für ein politisches Verständnis einer Sprache, die dem Deutschen mindestens etwas „G’feanztes“ voraushat. Ich werde also noch ein wenig genauer hinhören bei den österreichischen Filmen, die mir 2011 unterkommen. Und von Doderer muss ich jetzt sowieso alles lesen.

 

Siehe auch: www.cargo-film.de

Die Diagonale-Webnotizen wurden von 2010 bis 2015 von der BAWAG P.S.K. unterstützt.

Der Standard ist Medienpartner der Diagonale-Webnotizen.
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