Diagonale
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Diagonale-Webnotiz 2/2011

von Zsófia Buglya

 

lebt in Budapest, ist als Übersetzerin und Filmkritikerin tätig; sie arbeitet zurzeit an ihrer Doktorarbeit zum Thema politische Instrumentalisierung von Komik im ungarischen Film der Kádár-Ära.

Diagonalen

Das Bild, das die Welt von Le Corbusiers Architektur bewahrt, ist stark von den Fotografien Lucien Hervés geprägt. Die Lichtbilder des in Frankreich wirkenden, aus Ungarn stammenden Fotografen dokumentieren Le Corbusiers Architektur jedoch nicht.

Angefangen mit der ersten, beim Bau der Unité d’Habitation entstandenen Fotoreihe sind es Bilder, in denen die Werke des Architekten nicht abgebildet, vielmehr neu für die Fläche erfunden werden. Hervés Architekturfotografien sind gleichzeitig abstrakt und real: Anhand der genau gewählten Perspektive ordnen sie die vom Rahmen umgrenzten Bildelemente zu einer dynamischen Einheit. Die intentionierte Struktur schafft eine neue, bildliche Architektur, die sich auch für Le Corbusier enthüllend erweist.

In Hervés Fotografien kommt den Diagonalen eine besondere Bedeutung zu. Scharfe Schatten fallen auf den Boden und laufen quer durch die rhythmisierenden Steinreihen. Dort, wo sich Wand und Treppe verbinden, entsteht eine schräge, zickzackförmige Linie. Grelles Sonnenlicht zeichnet helle Keile auf die sich über uns erhebende Betonfassade.

Diagonalen sind feste Kompositionselemente der Bilder. Sie trennen und verbinden, steigen oder fallen, kreuzen oder reihen sich. Sie schaffen Tiefe und Akzente – und führen den Blick.

Diagonale als Festivalname ist ausdrucksvoll.

Ein Festival, unabhängig davon, welche Szene es repräsentiert, schafft in gewisser Weise selbst ein Bild bzw. Bilder. Die Reduktion der zeitlichen und räumlichen Dimensionen, die notwendige Verdichtung, ergibt eine neue Struktur. Die Selektion und das Bestimmen der Komposition sind Grundelemente dieses Schaffensprozesses.

Den passenden Ausschnitt zu finden, könnte im Falle eines nationalen Filmfestivals einfach sein – ist es aber nicht. Der Diagonale ähnliche, repräsentative nationale Filmschauen sind gar nicht so üblich (in Ungarn gibt es eine und es wird sie hoffentlich noch lange geben, auch wenn sie heuer noch nicht, bzw. nicht wie seit langen Jahren, vor der Berlinale abgehalten wurde). Die Antwort auf die Frage, welche Bedeutung eine nationale Filmschau in einer Zeit haben mag, in der ein ansehnlicher Teil der Werke nicht im nationalen Rahmen entsteht, und wo in Sachen Präsenz das Temporale, d.h. ob wir einander Zeitgenossen sind, oft wichtiger wird als das Lokale, ist nicht evident. Außer Frage steht nur, dass im Hinblick auf das Selbsterhalten und die „Körperpflege“ (© Andreas Lust) einer Filmbrache eine Veranstaltung dieser Art unschätzbar wichtig ist.

Diese Differenzierung, nämlich dass der Wert eines solchen Festivals eindeutig, sein Inhalt aber – wie und was es zeigt – gar keine Selbstverständlichkeit ist, wird von der Diagonale wahrgenommen. Die Durchstrukturiertheit des Grazer Programms – die Entwicklung der einzelnen Programmschienen, ihre Positionierung im Verhältnis zueinander, die Begründung der Rahmenprogramme – schafft eine Art Wertneutralität. Nur in der bestimmten Anordnung und gerade aus der gewählten Perspektive erhalten das Neue und auch das Alte ihren vielleicht nur hier entdeckbaren Stellenwert.

Diese offensichtliche Strukturiertheit verleiht dem Programm einerseits Stabilität, andererseits Dynamik. Es wird klar, dass das, was gezeigt wird, nicht der österreichische Film per se, sondern sein für das Festivalpublikum erschaffenes Bild ist. Ein Bild, in dem Schulprojektionen, Filmblöcke aus den Arbeiten junger Filmtalente, Programme zu wenig erforschten Teilen der Filmgeschichte, das eine oder andere Tribute, Ausblicke auf Partnerfestivals zusammenfließen. Dieses Nebeneinander führt wiederum zur Auflockerung festgesetzter Zuschauererwartungen, zum Abbau von Genre, Branche, Gesellschaft, Protokollen betreffender Werthierarchien. Es sind jene Diagonalen, die das Gesamtbild dynamisieren. Die es zum Beispiel ermöglichen, dass das Festival mal mit Experimental- und Dokumentarfilmen eröffnet wird, mal der Publikumspreis an einen Dokumentarfilm über obdachlose Fußballer geht. Auch jene Momente gehören hierher, in denen die Moderatorin der Preisverleihung spontan den Sponsor des Preises für innovativen Film fragt, was überhaupt unter innovativem Film zu verstehen sei, und er daraufhin zugibt, darüber schon länger und ohne Erfolg nachgedacht zu haben; wie gut, dass der Preis von einer Jury vergeben werde.

Aus der Perspektive einer Journalistin aus dem Ausland ist diese, sich nicht als Evidenz wahrnehmende Struktur, eine enorme Stütze. Sie experimentiert ja von vornherein mit teils festgesetzten Bildern: Aus der Perspektive ihrer potenziellen Leser sind vom österreichischen Film wenige Werke einzelner Autoren sichtbar (man denke an die Filme, die in Ungarn in den regulären Kinoverleih kommen oder ausgestrahlt werden). Aber vielleicht ist es nicht nur sie, der die Diagonale neue Details zeigen kann.

„Du bringst die Zuschauer zum Räsonieren, mit dem Erzeugen von Spannung, mit dem Kontrast von Licht und Schatten, mit Diagonalen, die das Bild durchstreichen …“ – sagt Attila Batár an einer Stelle in seinem Interviewbuch zu Lucien Hervé.

Le Corbusier ist diesbezüglich keine Ausnahme unter den Zuschauern. Nachdem er Hervés Lichtbilder über die Unité d’Habitation sieht, besteht er darauf, dass nur mehr der Fotograf mit der „Architektenseele“ seine Bauten fotografiert. Hervés Bilder sollen ihm unbekannte Dimensionen der eigenen Architektur gezeigt haben.

Angesichts der Treue der österreichischen Filmbranche zur Diagonale in Graz müssen sie in ihr eine ähnlich sensible Bildererschaffende gefunden haben.

 

Die Diagonale-Webnotizen wurden von 2010 bis 2015 von der BAWAG P.S.K. unterstützt.

Der Standard ist Medienpartner der Diagonale-Webnotizen.
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