In Graz erklärt man den Kindern die Entstehung von Raureif dadurch, dass sich nachts ein Mensch mit einem Topf Farbe und einem Pinsel aufmacht, um die Bäume, die Wiesen und die Sträucher damit anzumalen. Am nächsten Morgen ist die Welt weiß und gespenstisch. Der Skepsis zum Trotz lassen sich die Kinder davon faszinieren, denn um diese These zu widerlegen, müssten sie sich entweder nachts wach halten, um diesen Mensch mit eigenen Augen zu sehen, oder genauer über Luftfeuchtigkeit und Lufttemperatur Bescheid wissen, was erst der Fall ist, wenn ihnen eine ambitionierte Biologielehrerin den Zusammenhang erklärt.
Aber die Tendenz zur Mystifizierung bleibt, bleibt wie ein Schleier über der Stadt, der Grundstein zur Verklärung ist gelegt, Graz ist bereit, sich verzaubern zu lassen.
Wie eben von der Diagonale. Nachts schleicht sie über die Stadt und plötzlich ist alles rot und anders. Plakatwände ziehen die Blicke auf sich. Fahnen färben den davor so winterlichen Grundton der Stadt flatternd rot. In den Auslagen stapeln sich Programmbücher und Diagonaletaschen. Und durch die engen Gassen der Innenstadt kreuzen die Diagonalegäste mit baumelnden Akkreditierungssackerln am Arm, programmiert nach einer Doppelseite voller Kinofilme. Meistens trauen sich zur selben Zeit die ersten Frühlingsknotenblumen schnuppernd an die Erdoberfläche, und die Sonne des Südens belohnt die Frühaufsteher – und – Schon-um-elf-ins-Kino-Geher, die mit blinzelnden Augen auf winzigen Stühlen vor winzigen Cafés zum ersten Mal in diesem Jahr im Freien Capuccino trinken. „Hach“, sagen Festivalbesucher aus den Regionen nördlich der Alpen, „Graz ist so schön.“ Die Grazer lächeln dann geschmeichelt und fühlen sich daran erinnert, dass da noch eine andere Welt existiert, außerhalb von Graz. Weil wenn es wo sehr schön ist, vergisst man schnell das Anderswo.
Für Graz ist die Diagonale ein Phänomen ohne Körper, ein Ereignis ohne Stab, ohne Organisation, ohne Intendanz. Weil „das macht ja jetzt irgendeine andere, oder?“ „Festival des Österreichischen Films“, sagen sie, wenn sie gefragt werden: „Viele Kurzfilme. Wenige davon gesehen.“
Aber ich glaube, Graz mag die Diagonale. Früher haben sich die Grazer vor dem österreichischen Film gefürchtet, der ja häufig so negativ daher kommt. Und der Kurzfilm stieß eher auf Unverständnis, die sehr begehrte Aussage bleibe da oftmals auf der Strecke. Da haben die Grazer gesagt: „Ich brauch eher irgendwas von der Liebe, ein Thema, bei dem nichts zum Nachdenken ist …“ Durch die Diagonale hat sich das entscheidend verändert. Diese geballte Ladung österreichischer Filme, die sich wie ein Sprühregen über die Frühlingsstimmung sprengt, wenn man davon einmal infiziert wurde, dann hält man das nicht mehr aus, das Nichtssagende, das Flache, das man sich nur wegen „dem“ Schauspieler ansieht. Da ist einem mit einem Mal Schad um die Zeit. „Der Österreichische Film“, sagen die Grazer, „ist halt nicht lustig – oft – aber trotzdem hat man nie das Gefühl, mir tut’s leid, dass ich das jetzt angeschaut hab.“
Und wenn man etwas nicht verstanden hat: „Dann bleibt man halt sitzen bei der Besprechung.“ Beim Reden kommen die Leut’ zamm und dass nachher drüber geredet wird, dass gibt einem schon einen anderen Blickwinkel, und das ist das Interessante, diese Regisseure. Faszinierend wie die Grazer sagen.
Aber im Grunde ist es die ungewohnte Energie in der Stadt. Sind es die großflächigen Plakate auf den Litfasssäulen – auch wenn sich manche daran stoßen müssen, wenn wieder einmal ein Nackerter drauf ist. Und weil über Nacht die Kleinstadt zur Großstadt wird. Die Grazer seufzen dann: „Wie New York …“ Auch wenn sie noch nie in New York gewesen sind, was sich gut trifft, dadurch ersparen sie sich einen langen Weg über den Atlantik. Mit der Diagonale kommt quasi New York nach Graz. „Das ist so ein tolles Gefühl. So eine Aufbruchstimmung in der Stadt. Sonst is’ es mir wurscht, aber da möcht’ ich noch mal 20 Jahre jünger sein. So viele junge Leut’ auf der Straße, vor dem Kino, im Kino, ganz andere als die, die du sonst siehst, toll …“
Toll, die eiligen Festivalbesucher, die wie Ameisen zwischen Annenhof und Schubertkino hin und her hasten. Toll wie die Kunsthausblase im Frühlingssonnenlicht futuristisch funkelt und von den Wienern bewundert wird, die ja ansonsten von Einheimischen als einfach nur schirch befunden wird. Sogar die Menschenmassen, zusammengerottet vor den Kinosälen wie konspirative Zellen, findet man toll. Und die Annenstraße bekommt eine reelle Ahnung, eine pulsierende lebendige Sehnsucht von den Ideen, woran Rathaus und Stadtplaner bis jetzt gescheitert sind. Mit Augen-zu fühlt man sich an den Times Square erinnert, abgesehen davon dass die Kaffeepappbecher rosarot vom Tribeka stammen und nicht von Starbucks.
Graz darf nicht nur, Graz sollte zu New York werden. Besonders seitdem der ehemalige Bürgermeister Rudy Giuliani die Kriminalität um 54 Prozent reduziert hat und im Durchgreifen gegen aggressives Betteln und Trunkenheit in der Öffentlichkeit nie zimperlich war. Themen, die auch im Grazer Rathaus an vorderster Stelle stehen. Nur das Telefonierverbot in den öffentlichen Verkehrsmitteln müsste überdacht werden, denn die Verbindung zum Rest der Welt sollte in Großstädten auch während des Straßenbahnfahrens nicht abreißen.
Die Diagonale gibt den Menschen in Graz das Gefühl, dass ihre Stadt eine Bedeutung hat. Über Nacht kleben Plakate und flattern die Fahnen, über Nacht wird Graz rot und weltrelevant.
Wie gesagt, die Tendenz zur Mystifizierung bleibt, bleibt wie ein Schleier über der Stadt, der Grundstein zur Verklärung ist gelegt, Graz ist immer bereit, sich verzaubern zu lassen.