Zur Aufführung von I CIMBRI beim Internationalen Filmfestival in Rotterdam, 1992
Kein Hilferuf, keine Trauer, keine Hektik. Ein Mariengebet tönt wie Jahrhunderte gleich: „Einmal war ich gut, jetzt nicht mehr, ich sag’ es falsch, wie eine Glocke.“ Schwarzfilm am Beginn und am Ende des Films. Einer wie Peter Schreiner lässt keine Ablenkung zu. Nur Töne klammern seinen sehr persönlichen Film konsequent. Er weiß, ohne die optische Dunkelheit ginge die scheinbar helle Akustik der Worte verloren. So arbeiten Meister, aber Peter Schreiner ist ein österreichischer Außenseiter, geboren 1957, zur Strafe in Wien. Seit 1982 dreht er experimentelle Dokumentarfilme mit Titeln wie Grelles Licht (1982), Erste Liebe (1983), Adagio (1984), Kinderfilm (1985), Auf dem Weg (1986–1990). Ein Weg voller Steine und Missverständnisse.
1983 sagt er: „Die Bedeutung der Kamera zu vertuschen, ist die Lüge vieler Spielfilme. Das interessiert mich nicht.“ Damit revoltiert er gegen die Vorstellungskraft der modischen Experimentalisten ebenso, wie gegen den engen Horizont der Mehrheit, die nur ins Kino geht, um – aus Gewohnheit – auch optisch vergewaltigt zu werden. Schreiner dreht weiter. Unbeirrbar. Radikal persönlich. Der Direktor der Österreichischen Filmtage zeigt 1990 seinen Film Auf dem Weg um 9 Uhr früh: Natürlich konnte der Direktor nicht auf den Film verzichten und wollte (sich selbst) beweisen, dass nur eine Minderheit den Film sehen will. Fünf Zuschauer waren im Saal des Greif-Kinos. Also hat der Direktor dem Direktor bewiesen, wie gut er ist: Und der Regisseur, der Autor, der stille Provokateur? Er sagte: „Ich will mit meinen Filmen niemanden beeindrucken.“
Um keine Missverständnisse zu wecken: Peter Schreiner ist kein Revolutionär der Ideen (die man noch vor Kurzem Ideologien nannte), auch kein alpenländischer Visionär des Ungesehenen, sondern ein radikaler Schausteller seiner Wirklichkeit, „seiner Wirklichkeit“ muss betont werden, denn in den Filmen Schreiners vor I Cimbri war auch ich als Zuschauer der Außenseiter, der manchmal gelangweilte Betrachter von Menschen, die wie auf einem Marktplatz an mir vorbeigingen, ohne mich „aufzunehmen“ in „ihre“ Welt. Sicher, radikal subjektive Bilder von spielenden Kindern und ebenso unbeholfenen Erwachsenen waren zu sehen, ungekünstelt, echt, direkt.
Und dann? I Cimbri. Vierzig Kilometer nordöstlich von Verona leben zwischen steilen Berghängen, Touristen und Kühen seit dem 13. Jahrhundert die „Zimbern“. Sie kamen aus Tirol und anderen Ländern, sprachen das „Tautsche Gareida“, mähten Wiesen und hüteten Kühe. Jahrhundertelang. Einwanderer, Flüchtlinge, Ausländer mit einer anderen Sprache auf jeden Fall. Das hinterlässt Spuren, Wunden, seltsame Zeichen von Macht und Ohnmacht. Noch vor 50 Jahren lebten in Giazza (Ljetzan) 800 Menschen, jetzt sind es nur mehr 250. Aus der selbstverständlich gelebten Autarkie ist eine Toteninsel der Lebenden geworden. Im Winter stehen zwei Drittel der Häuser leer und warten auf den Sommertourismus. Noch locken das „Zimbernmuseum“ und der Flipper im Wirtshaus, die falsche Glocke zum Jahrmarkt. In fünf bis zehn Jahren wird auch das Vergangenheit sein. Peter Schreiner filmte, was kein TV-Film zeigen dürfte: schwer atmende alte Männer ohne Worte, plötzlich ein Laut wie von einem Zugvogel zum Abschied in den Wind geschrien, einsame Hunde und Katzen auf menschenleeren Dorfstraßen, Autos, lärmende und singende Touristen, die längst vergessen haben, dass sie ein militärisches Lied singen, und Frauen, gebeugt voller Zurückhaltung, Scheu und Scham. Wo verlernten die Männer ihr Handwerk, wie wurden sie sprachlos und verbittert?
Peter Schreiner stellt wenig Fragen, er beobachtet wie ein Adler, der selbst vom Aussterben bedroht ist. Bergwiesen, Holzhütten, Menschen, Steine. Mitleidlos zeigt er: was war und ist. Ohne Wertung, wie sie in sentimentalen TV-Dokumentationen immer Mode war und ist. Peter Schreiner verweigert jede Illusion. „Es geht nicht darum, dass ein Film wirklichkeitsgetreu ist, es gibt so viele Wirklichkeiten, wie es Menschen gibt.“
In Österreich hat Schreiner keine filmischen Vorfahren und nur wenige Menschen, die ihm Mut machen. Das muss nicht sein. Wer wenigstens Johan van der Keukens Das Auge über dem Brunnen gesehen hat, der weiß um einen Holländer, der Peter Schreiners Vater sein könnte. Vielleicht noch stärker als die Menschen in Kerala, stehen die Zimbern der Kamera von Peter Schreiner gegenüber: Subjekte, im Begriff Objekte zu werden. Bei Peter Schreiner stellt sich zumindest eine alte Frau einmal gegen die Beharrlichkeit der Kamera, sagt: „basta“ und geht. Sie behält ihre Würde und ihren Stolz.
Der Gefahr der Inszenierung, der Instrumentalisierung von Menschen war sich Peter Schreiner durchaus bewusst, sonst hätte er nicht 1988, vor Beginn der Dreharbeiten zu I Cimbri geschrieben: „Wir sind nur berechtigt, diesen Film zu drehen, wenn wir die Menschen nicht hintergehen. Nicht sie belauschen oder ausstellen, sondern sie atmen, bewegen, reden lassen.“ So bleibt ihm die bittere Erkenntnis seines deutschen Kollegen Peter Heller erspart, der rückblickend über die Arbeit an einem TV-Film über die Tuaregs sagte: „Ich war geschockt, bedrückt und verlegen. Wir haben uns dabei ertappt, genau das zu zerstören, was wir gesucht haben. Weil wir es vorzeigen wollten.“ Schreiner – und das ist ihm zu danken, zerstört nicht, weil er sich behutsam und vielleicht sogar zu vorsichtig den Menschen nähert, aber dabei viele Arten von Zerstörung beobachtet, die andere auf dem Gewissen haben. Die aussterbende Sprache der Zimbern ist nur das beeindruckendste Zeichen vieler Verluste. Schon seit langem wird das Ende der Zimbern-Kultur und Sprache vorausgesagt, aber trotz aller Diffamierungen (rückständig usw.) haben sie Jahrhunderte überlebt. Einmal sagt ein alter Mann im Film, im Dorf Fortunato, „der Glückliche“ genannt, beinahe nebenbei entscheidende Wörter. Um zu verstehen, braucht es keine Sätze: „… Bruder, Schwester … wir haben Holz geschnitten … alles kaputt.“ Und Romano: „Früher waren wir 800, einmal im Monat kam der Arzt vorbei, jetzt sind wir 124 und er kommt jeden Tag. Wir hatten einfaches Essen. Heute schmeckt es besser, aber es ist voller Gift. Alles ist verloren, der Geruch des gebackenen Brotes, ein Schwein brauchte sieben bis acht Monate um auszuwachsen, heute drei bis vier, weil es Kunstfutter bekommt …“
I Cimbri wurde glücklicherweise kein ethnologischer Lehrfilm, kein ökologisches Pamphlet, kein Wellenfilm, der die Vergangenheit verherrlicht und den Slogan „Zurück zur Natur“ bebildert, sondern ein ehrlicher, impressionistischer Film, der am Ende sogar auf Bilder verzichtet und nur die Stimme Romanos hören lässt: „Als ich jung war, haben alle Zimbrisch gesprochen, Kleine und Große, dann kamen sie aus Verona und haben uns ausgelacht … Viele sind weggegangen … ein paar Alte sind noch da … die Jungen sind weg.“ Im Juni 1991 fuhr Peter Schreiner mit seinem Film in die Berge, nicht weit von Verona. Dort hat er einige alte Menschen vor Freude weinen sehen.