Eröffnungsfilm’22: SONNE von Kurdwin Ayub
Die Diagonale freut sich, bekanntgeben zu dürfen, dass das Festival des österreichischen Films am Dienstag, den 5. April mit Kurdwin Ayubs Spielfilm SONNE (AT 2022) eröffnen wird. Nach seiner Uraufführung bei der Berlinale in der Sektion Encounters wird der von der Ulrich Seidl Filmproduktion verantwortete Film auf der temporär größten Leinwand des Landes – in der Helmut List Halle – als österreichische Erstaufführung zu sehen sein. Kurdwin Ayubs SONNE ist ein beispielloser Film seiner Generation, drängend relevant in Form und Inhalt, die ironische Dekonstruktion jedweder Authentizität. Zeitgleich zum Eröffnungsscreening in Graz und in Zusammenarbeit mit dem Stadtkino Filmverleih strahlt SONNE am 5. April über die Steiermark hinaus und wird quer durch Österreich exklusiv und einmalig in folgenden ausgewählten Programmkinos zu sehen sein: Cinema Paradiso (St. Pölten), Leokino (Innsbruck), Moviemento (Linz), Stadtkino im Künstlerhaus (Wien), Volkskino (Klagenfurt).
Parallel zum Eröffnungsscreening in der Helmut List Halle hat das Publikum außerdem die Gelegenheit, den Film im Annenhof Kino als erste reguläre Vorstellung des Festivals zu sehen.
Mehr zu Kurdwin Ayub und SONNE finden Sie genauso wie Informationen zur Galapremiere von Ulrich Seidls Rimini (AT 2022) und zum Wettbewerbsfilm Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien (AT 2022) von Constantin Wulff unterhalb.
„Mit SONNE schenkt Kurdwin Ayub der Diagonale einen außergewöhnlichen Eröffnungsfilm. Bereits mit ihren betörenden Musikvideos, aberwitzigen und bissigen Kurzfilmen und ihrem Dokumentarfilmdebüt Paradies! Paradies! zeigte sie auf, dass die Beschreibung der Gegenwart unterschiedlichste filmische Formen erfordert. In SONNE verdichtet Ayub ihre ästhetisch waghalsigen Manöver, ihren Humor und ihr gewieftes Sprachgefühl für den Jargon der Jugend zu einem radikalen Spielfilm.
SONNE ist ein Lichtblick – möglicherweise eine Zäsur – im (jungen) österreichischen Kino. Ein Spielfilm, der nur wenig mit jenen Filmen zu tun hat, die in den ersten 25 Jahren der Diagonale in Graz zu sehen waren. SONNE ist ein Kind seiner Zeit und bringt die Ästhetik einer Gegenwart, in der dem Kino längst etwas Nostalgisches anhaftet, auf die Leinwand: Das Hochformat des Smartphones und die schnellen Schnitte flüchtiger Social-Media-Storys schreiben sich in Ayubs selbstbewusst inszenierte Kinobildwelt ein. Mit der charakteristischen Nähe und Intimität ihrer Filmsprache bringt sie die Verwirrungen ihrer Generation und unserer Zeit zum Ausdruck: Die Protagonistinnen Yesmin, Bella und Nati sind Spurensucherinnen in den Lifestylecodes zwischen Retromode und kurdischen Militäruniformen – kulturelle Zuschreibungen werden angeeignet, verformt, zurückgewiesen. So ist SONNE ein Generationenstatement ohne Selbstmitleid und falsche Moral.
Für bestehende Fans von Kurdwin Ayub ist SONNE wohl ein erstes Best-of, für Neugierige die Einladung, eine neue Handschrift im österreichischen Film kennenzulernen, für ihre Kritiker*innen die notwendige nächste Provokation – und für die Diagonale der beste Eröffnungsfilm, um nach 25 Jahren Diagonale in Graz in die Zukunft zu blicken. Wir freuen uns außerordentlich, den Film mit unserem Publikum zu teilen!“
——— Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, Festivalleitung
Galapremiere mit Rimini von Ulrich Seidl
Am Tag nach der Eröffnung und der Österreichpremiere von Kurdwin Ayubs SONNE bildet die Helmut List Halle am Mittwoch, den 6. April ein zweites Mal den einzigartigen Rahmen für eine prominente Kinopremiere: Ulrich Seidls lang erwarteter neuer Spielfilm Rimini wird nach seiner Uraufführung im Wettbewerb der Berlinale einmalig im Festival und dabei erstmals in Österreich zu sehen sein.
Richie Bravo (Michael Thomas), einst ein gefeierter Schlagerstar, jagt im winterlichen Rimini seinem verblichenen Ruhm hinterher. Verloren zwischen Dauerrausch und Konzerten vor Bustourist*innen beginnt seine Welt zu kollabieren, als plötzlich seine erwachsene Tochter in sein Leben einbricht. Sie will Geld von ihm, das er nicht hat. Tickets für die parallel zur Eröffnung stattfindende Publikumsvorstellung von SONNE im Annenhof Kino sowie für die Galapremiere von Rimini in der Helmut List Halle sind ab 30. März 2022 verfügbar.
„Seidls neues Opus magnum ist von tiefer Romantik, ja Traurigkeit. Mag die Oberfläche auch noch so dreckig und pervers sein: Kaum war ein Film der Pathospraxis des Lebens so nah. Gerahmt vom letzten Kinoauftritt Hans-Michael Rehbergs, brilliert Michael Thomas als Sohn, Vater, Mann. Sein Leiden ist so echt und falsch wie seine Liebe. Sein Singen das einsame Selbstgespräch eines Losers.“
——— Berlinale
Präsentiert von Ö1, Patronanz: AVL Cultural Foundation und RTR Fernsehfonds Austria
Von der Berlinale nach Graz: Constantin Wulffs Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien
Die Diagonale findet vom 5. bis 10. April 2022 und dabei zum 25. Mal in Graz statt. Im Rahmen der Jubiläumsausgabe erfährt auch der neue Dokumentarfilm von Constantin Wulff, der dem Festival bei seiner Grazer Erstausgabe 1998 gemeinsam mit Christine Dollhofer vorstand, seine Österreichpremiere: Der im Direct-Cinema-Stil gefilmte Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien feiert seine Weltpremiere in der Sektion Forum der Berlinale und ist für den Wettbewerb der Diagonale in Graz ausgewählt. Unaufgeregt begleitet und beobachtet Wulff die Wechselwirkung zwischen Institution und Gesellschaft. Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien ist ein präzises Porträt einer Bürokratie im Dienste der Solidarität, einer Institution als Seismografin einer Arbeitswelt im Wandel.
Film, Fame, Festival – Kurdwin Ayub
Genauso wie Wulff ist auch Kurdwin Ayub dem Festival des österreichischen Films seit vielen Jahren verbunden. Seit 2011 war sie vielfach und in beinahe allen Sektionen des Wettbewerbs der Diagonale vertreten: von den Performanceminiaturen Adele1 (AT 2011), Katzenjammer (AT 2011), sexy (AT 2013) und Video1 (AT 2014) über die Animationen Die Intrige und die Archenmuscheln (AT 2010) und Armageddon (AT 2018) bis hin zum Kurzspielfilm Boomerang (AT 2018) und den (Kurz-)Dokumentarfilmen Familienurlaub (AT 2012), LOLOLOL (AT 2020) und Paradies! Paradies! (AT 2016).
Letzterer – ein intimes, stellenweise skurriles und ernüchterndes Generationenporträt über Ver- und Entwurzelung als individuelles Familienschicksal und gleichzeitiges Massenphänomen des 20. und 21. Jahrhunderts – war Ayubs erster Langdokumentarfilm und wurde bei der Diagonale’16 für die beste Bildgestaltung ausgezeichnet: „Mit großer Beobachtungsgabe und dem Talent, am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein, fängt sie immer wieder intime Schlüsselmomente ein und beweist dabei auch den Mut, sich selbst preiszugeben. Ein packendes, tragikomisches Homemovie über den Sog des Heimwehs.“ (Jurystatement) Wie auch Boomerang wird Paradies! Paradies! bei der Diagonale’22 in der Reihe In Referenz zu sehen sein. In beiden Filmen – sowie im aktuellen Spielfilm SONNE – ist auch Ayubs Vater in Schlüsselrollen zu sehen.
Kurdwin Ayub wurde 1990 im Irak geboren. Sie lebt und arbeitet als Regisseurin und Drehbuchautorin in Wien. Von 2008 bis 2013 studierte sie Malerei und experimentellen Animationsfilm an der Universität für angewandte Kunst sowie performative Kunst an der Akademie der bildenden Künste, beides in Wien.
Zum Eröffnungsfilm SONNE von Kurdwin Ayub
Drei Wiener Teenagerinnen twerken im Hijab und singen einen Popsong. Ein YouTube-Video davon macht sie vor allem unter kurdischen Muslim*innen über Nacht berühmt. Yesmin, die als einzige der Freundinnen selbst Kurdin ist, beginnt, sich immer weiter von ihrer Kultur zu distanzieren. Nati und Bella scheinen hingegen fasziniert von der ihnen fremden Welt. Als die Mädchen zwei junge kurdische Patrioten kennenlernen, droht die Situation zu eskalieren. Ein Film über Jugendliche zwischen Social Media und Selbstfindung, eine Geschichte von Rebellinnen.
„Und wie einst Tic Tac Toe sich ganz dramatisch getrennt haben, wollte ich auch, dass die Band dieser drei Freundinnen sich laut zersprengt“, bemerkte Kurdwin Ayub unlängst in einem Gespräch mit AFC – Austrian Films.
SONNE, die Leiden der jungen Twerker – Katalogtext von Alexandra Zawia
„Oh life is bigger / It’s bigger than you.“ Zwei Teenagerinnen wälzen sich auf einem Bett. Sie sind in Hijabs gehüllt. Sie lachen. Aus einem Handy dröhnt es weiter: „And you are not me / The lengths that I will go to / The distance in your eyes.“ Verführerische Blicke. Sie twerken ihre Hintern in die Kamera, tun so, als würden sie einander küssen. Zungenspiele. „Oh no I’ve said too much / I set it up.“ Drängen sich gemeinsam in eine Ecke des Zimmers für ein Selfie mit dem dritten Mädchen im Raum, die sie mit dem Handy filmt. Sechsmal sexy Augenaufschlag. „That’s me in the corner / That’s me in the spotlight / Losing my religion.“
Schon diese Eröffnungsszene von Kurdwin Ayubs Film SONNE lässt keinen Zweifel: Die „Stimme einer Generation“? Die politisch relevanteste Vollendung von „Form und Inhalt“? Um es mit R.E.M. zu sagen: „Consider this the hint of the century.“
Im Kern die Geschichte einer Mädchenfreundschaft: Pubertät und Internet, Sinnsuche, Unsicherheiten, Distinktionswille und Zugehörigkeitssehnsucht, alltäglicher Rassismus. Yesmin ist in Österreich geboren, mit ihren liebevollen Eltern und ihrem Bruder hat sie sich zwischen kurdischer Community und Wiener Oberstufe eingerichtet. Bella und Nati sind ihre BFFs, die besten Freundinnen. Eine Dreierdynamik, die typische Kapriolen schlägt. Als sie ihre Hijabversion von R.E.M.s „Losing My Religion“ auf YouTube hochladen, geht das Video viral, sie werden für kurze Zeit zu Stars.
Ayub spart aus, wie die Mädchen für ihre Performance von einem feuilletonistischen Metadiskurs gefeiert werden könnten und konzentriert sich stattdessen auf deren engstes Umfeld. Die Familie, die Streitereien, die der plötzliche Fame auslöst, die Entwicklungen, die er zwischen ihnen in Gang setzt. „Losing my religion“ meint übersetzt: „Mir reicht es“, und als wäre das nicht genug, werden die Mädchen nun ständig für Feste in den religiösen Communitys gebucht. Die Popularität steigt ihnen ein wenig zu Kopf. Und während Yesmin sich von ihrer Kultur und den stagnierenden Rollenbildern wegzubewegen versucht, umarmen Bella und Nati das kurdische Patriarchat. Der verdrehte Culture Clash ist unabwendbar, die Pausen zwischen ihren WhatsApp-Nachrichten werden länger, Antworten auf SMS bleiben aus. In seiner facettenreichen, akut gegenwärtigen Symbiose aus künstlerischer Form und Inhalt betreibt SONNE die ironische Dekonstruktion kultureller, personeller und virtueller „Authentizität“ – aber auch seiner eigenen Ästhetiken. Vermeintliche Fluchtpunkte werden zu Fallen, Sehnsuchtsszenarien zu Shit. Das Einzige, was da noch sicher ist: Du weißt doch gar nicht, wer du bist.
Rimini startet am 8. April, SONNE am 9. September und Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien am 23. September 2022 in den österreichischen Kinos (Stadtkino Filmverleih).