Der Traum der bleibt
Dokumentarfilm, AT 1996, Farbe, 155 min., OmeU
Diagonale 2021
Regie, Buch: Leopold Lummerstorfer
Kamera: Robert Angst
Schnitt: Eliška Štíbrová
Originalton: Bruno Pisek
Musik: Sergei Dreznin
Weitere Credits: mit:
Bewohner/innen und Betreuer/innen des Hauses Wien 22, Rennbahnweg 27 sowie Architekt Fritz G. Mayr und Wohnbaustadtrat Werner Faymann
Produzent:innen: Nikolaus Geyerhalter
Produktion: NGF – Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion
Im 22. Wiener Gemeindebezirk steht eines der größten Wohnhäuser des Landes: die Trabrenngründe, der „schrecklichste Wohnbau Österreichs“ (Harry Glück). Den medialen Negativkampagnen und allgemeinem Hörensagen zum Trotz nimmt sich Leopold Lummerstorfer Zeit, genauer hinzusehen, und nähert sich dem einstigen städtischen „Brennpunkt“ aus mannigfachen Perspektiven. Dem, was ist, was hätte sein sollen und was vom Traum Sozialbau blieb.
Wien, 22. Gemeindebezirk. Hier steht eines der
größten Wohnhäuser Österreichs, die umgangssprachlich
als Siedlung Rennbahnweg bezeichneten
Trabrenngründe. Mit rund 12.000 Bewohner/innen auf 195.000 Quadratmetern entspricht der in
den 1970er-Jahren errichtete Komplex einer durchschnittlichen
Kleinstadt. Einer Kleinstadt, verwaltet
von Hausmeister/innen und Facility-Agenturen.
Auch heute noch sind die Trabrenngründe ein
ferner Satellit im vielfach als lebenswerteste Stadt
ausgezeichneten Wien. Dem Klischee nach ein Aushängeschild
negativer Art und ein weitgehend in
sich geschlossener Kosmos, der einem Großteil der
Hauptstadtbewohner/innen ein Leben lang unzugänglich
bleibt. Während der Gemeindebau in Paul
Fejos’ Sonnenstrahl noch als Hort
der Solidargemeinschaft inszeniert ist, müssen die
Trabrenngründe als Realität gewordene Gegenerzählung
herhalten: Die Utopie des Roten Wien mit
seinem von der Sozialdemokratie ausgegebenen
„Miteinander“ scheint vielfach gescheitert, die Großstadt
hat Sehnsuchtspotenzial eingebüßt.
Den medialen Negativkampagnen und allgemeinem
Hörensagen zum Trotz nimmt sich Leopold
Lummerstorfer für seinen Film Zeit, genauer hinzusehen:
Im Sommer 1995 bezieht er mit seinem
Team eine der damals 2.429 Wohnungen – Stiege 15,
6. Stock, Tür 19 – und beginnt, Gespräche zu führen.
Vorbehalte der neuen Nachbar/innen werden nach
und nach überwunden, eine neutrale Annäherung
über das Erzählte möglich. Es sind Geschichten von
zu viel oder zu wenig Anonymität im dicht gedrängten
Nebeneinander, von Jugendlichen, die in der fehlenden
oder fehlerhaften Infrastruktur keinen Platz
finden, um sich entfalten oder auch bloß friktionsfrei
aufhalten zu können, von ambitionierten, aber bisweilen demotivierten
Hausmeister/innen, von Drogenmissbrauch
und fehlendem Sicherheitsempfinden im schwer einsehbaren
Betonlabyrinth. Das Netz Lummerstorfers
verfängt sich dabei längst nicht nur in den Negativspitzen,
für die die Trabrenngründe dem/der gemeinen
Wiener/in ein Begriff sind. Wunschlos glücklich
ist hier so manche/r Interviewpartner/in. Und wenn
die Kamera den Arbeitern, die vom Land auf Montage
hier sind, bei der monatelang andauernden Fensterrenovierung
im Bau folgt und die Singvogelscharen
die Höfe durchmessen, werden auch die Größe und
die zugegeben gut versteckte Schönheit dieser Anlage
fassbar. Niemals begnügt sich Lummerstorfers
Blick mit einem plumpen Ausmachen von Kuriosem
oder einem bloßen Vorführen sozialer Differenzen.
Vor allem deshalb, weil er den vermeintlichen städtischen
„Brennpunkt“ aus städtebaulicher, privater
wie auch politischer Perspektive generationen- und
milieuübergreifend verstehen will. Und weil die
Kamera Abstand wahrt und Eleganz zulässt, wo
sehr wohl auch der schundhaften Erzählung hätte
gefrönt werden können. Politisch und städtebaulich
erweisen sich die Trabrenngründe nämlich tatsächlich
als Geschichte einer Entstellung: Kinos, Kirchen,
Restaurants wurden durch leichtfertige, bisweilen
überaus befremdliche (politische) Einflussnahme
nach und nach aus den Bauplänen gestrichen. Der
Traum wurde in teils frappierender Pragmatik ausgedünnt,
wie Architekt Fritz Gerhard Mayr festhält.
Was blieb, montiert Lummerstorfer als organisches
Beziehungsgeflecht zwischen Mensch, Stadt und
Wohnanlage zu einem der bemerkenswertesten
Dokumentarfilme dieses Landes.
(Katalogtext, Sebastian Höglinger)