Wenn es Liebe wäre
Dokumentarfilm, FR 2019, Farbe, 82 min., 10.06. OmeU/12.06. OmdU
Diagonale 2021
Regie, Buch: Patric Chiha
Darsteller:innen: Philip Berlin, Marine Chesnais, Kerstin Daley-Baradel, Sylvain Decloitre, Sophie Demeyer, Vincent Dupuy, Massimo Fusco, Nuria Guiu Sagarra, Rehin Hollant, Georges Labbat, Oskar Landström, Theo Livesey, Louise Perming, Katia Petrowick, Anja Röttgerkamp, Jonathan Schatz, Gisèle Vienne, Henrietta Wallberg, Tyra Wigg
Kamera: Jordane Chouzenoux
Schnitt: Anna Riche
Originalton: Pierre Bompy
Sounddesign: Mikaël Barre
Produzent:innen: Charlotte Vincent
Produktion: Aurora Films (FR)
Die Tanzfläche als Bühne. Choreografin Gisèle Vienne und Regisseur Patric Chiha nehmen das wörtlich. In Viennes Stück „Crowd“ kommen 15 Tänzer/innen für eine Clubnacht zusammen, werden zu einem Körper, dessen einzelne Bestandteile dennoch erkennbar bleiben. Chihas Film erkundet die Nacht und deren Protagonist*innen auf eine Weise, in der sich Fiktionales und Dokumentarisches mischen, ineinander verschlingen. Fast ein chemisches Experiment voller Anziehungen und Abstoßungen.
Der Schweiß kommt aus dem Drucksprüher. Wie in einer Zeremonie stehen die Tänzerinnen und Tänzer in seinem Nebel, empfangen das Nass, das sie bereit macht für die Tanzfläche, die zugleich eine Bühne ist. Sie alle sind Teil des Stücks „Crowd“ von Gisèle Vienne, das sich mit Raves in den 1990er-Jahren befasst. 15 Personen, von denen jede eine eigene Rolle, einen eigenen Hintergrund zugewiesen bekommen hat, die manchmal sichtbar, vielleicht aber
auch unsichtbar in der künstlichen Nacht verhandelt werden. Es geht darum, Grenzen zu testen und zu finden. Und Patric Chihas Film macht deutlich, dass diese Arbeit auch hinter den Kulissen erledigt werden muss. Denn eine Clubnacht vollzieht sich nicht ausschließlich auf der Tanzfläche, sondern vor allem auch in den vielen dunklen Ecken und Nischen, in denen Geschehenes reflektiert, zu Erwartendes geteilt oder sich einfach nur miteinander vergnügt wird.
Gisèle Vienne gibt dabei den Takt vor. „Kostet jede Berührung aus“, fordert sie die Tanzenden auf. Auch sollen sich alle einem „gemeinsamen Atmen“ hingeben. Wie eine Qualle, die durch die Tiefen des Ozeans zieht, bewegen sich dann die Körper, die zu einem werden, ziehen sich zusammen und öffnen sich wieder. Doch die Harmonie, instruiert von Choreografin und Musik, täuscht. Die einzelnen verborgenen Plots haben es in sich. Einer der Tänzer etwa ist in eine junge Frau verliebt. Aber die ist innerlich so leer, dass er, wenn er sich ihr nähert, jedes Mal auch ein Stück von sich selbst verliert. Für ihn sei sie wie das schwarze Loch inmitten der Partygäste. Jene Frau wiederum bekennt, dass sie viel von ihrer aktuellen Situation in das Stück einbringe.
Andere Gäste kennen sich, vermeintlich, aus der rechtsradikalen Szene und von Gangbang-Partys. Einer der Tänzer war zu Schulzeiten mal ein Mädchen, jetzt ist er ein Mann. Plötzlich entdeckt er auf der Tanzfläche eine alte Klassenkameradin. Wird sie ihn erkennen? Manche der 15 empfinden die Geschichten als zu konstruiert und ergehen sich lieber in Klatsch und Tratsch rund um die Produktion, während in der Maske unechte Tattoos auf Oberarme gestempelt werden. Wenn es Liebe wäre erkundet die Nacht und ihre Protagonist/innen auf eine Weise, in der sich Fiktionales und Dokumentarisches mischen, ineinander verschlingen. „Es ist eine Party, da darf’s mal zu weit gehen“, findet jemand. „Aber danach tut’s weh.“ Schmerz, Lust, Spiel und Abgrund werden greifbar. Bis sich, möglicherweise schon nach ein paar Stunden, alles als Hirngespinst erweist. Fast ein chemisches Experiment voller Anziehungen und Abstoßungen.
(Katalogtext, cw)
In Kooperation mit DRAMA|TIK|ER|INNEN|FESTIVAL Graz.