Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien
Dokumentarfilm, AT 2022, Farbe, 120 min., dOF
Diagonale 2022
Regie, Buch: Constantin Wulff
Kamera: Johannes Hammel, Michael Schindegger
Schnitt: Dieter Pichler
Originalton: Andreas Hamza, Claus Benischke-Lang
Sounddesign: Andreas Hamza
Produzent:innen: Johannes Rosenberger, Johannes Holzhausen, Constantin Wulff
Produktion: Navigator Film
Zur Arbeiterkammer Wien kommen Verkäufer*innen, Fahrradmechaniker*innen, situierte Herren mit gut dotierten Arbeitsverträgen. Hier werden sie beraten und vertreten, geschult in der Wahrnehmung ihrer Rechte. In vielstimmigen Gesprächen wird Gerechtigkeit verhandelt, Selbstbestimmung möglich. Constantin Wulff gelingt ein präzises Institutionenporträt einer Bürokratie im Dienste der Solidarität. Die Arbeiterkammer als Seismograf einer Arbeitswelt im Wandel – insbesondere während der Pandemie. Nach seiner Uraufführung bei der Berlinale in der Sektion Forum wird der Film auf der Diagonale als österreichische Erstaufführung zu sehen sein.
Lohnausfall gleich beim ersten Gehalt, Kündigung während der Elternzeit, fadenscheinige Pensionsangebote – zur Arbeiterkammer Wien kommen Menschen mit den verschiedensten Anliegen. Es sind Verkäuferinnen, Fahrradmechanikerinnen, situierte Herren mit gut dotierten Arbeitsverträgen. Sie werden dort beraten, vertreten und bestärkt. Das Gefühl einer Ohnmacht gegenüber Arbeitsmarkt und Arbeitgeber*innen weicht im Gespräch der Planung einer konstruktiven und robusten Auseinandersetzung. Rechte werden wahrnehmbar.
Am Empfang werden die vielen, die bei der Arbeiterkammer Unterstützung suchen, in die Wartebereiche A, B und C gewiesen. In der Institution hat das Engagement für die Sache der Arbeitnehmer*innen administrative Form gefunden – eine Bürokratie der Solidarität. Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien interessiert sich für beide Seiten dieses Apparats: für jene, die ihre Erfahrungen mit den Härten diverser Arbeitswelten in das schnörkellose Gebäude bringen, und für jene, die dort ihre eigene Arbeitswelt gefunden haben.
Constantin Wulff beobachtet; begleitet unaufgeregt die Wechselwirkung zwischen Institution und
Gesellschaft. Dabei kommt die Arbeiterkammer als flexibles Gebilde in den Blick. Sie reagiert auf einen Arbeitsmarkt, der globaler und digitaler wird, genauso wie auf eine fragmentierte Öffentlichkeit. Ihre PR-Abteilung redet im Marketingsprech von der Emotionalisierung der Gerechtigkeit, der Direktor informiert Schüler*innen in jugendlichen Vokabeln über die Planung ihrer Pflichtpraktika. Dass es eine Anlaufstelle für Nöte im Kapitalismus gibt, bedarf eifriger Vermittlung.
Der Film interessiert sich für die unterschiedlichen Sprechweisen innerhalb des Organisationskörpers; porträtiert eine Institution im Austausch, als Seismograf einer Arbeitswelt im Wandel. Wo Verträge per WhatsApp gekündigt werden, braucht eine Behörde eine digitale Strategie. Wo Menschen mit Migrationshintergrund gezielt ausgebeutet werden, bedarf es mehrsprachiger Beratung. Als sich das dialogische Wirken der Kammer durch die Pandemie völlig verändert, während sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschärft, wird diese Wechselwirkung besonders augenfällig.
Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien widmet sich dem gemeinsamen Ausloten von Handlungsmöglichkeiten, der Verzweiflung und dem Bemühen, ihr zu begegnen. Der Widerpart zu den vielen Tonalitäten des Sprechens über konkrete Arbeitsverhältnisse ist dabei das Sprechen über Strukturen. In einem luziden Vortrag hinterfragt etwa Thomas Piketty als Gast der Arbeiterkammer den Unterschied zwischen sozialen und wirtschaftlichen Kostenrechnungen. Der Apparat recherchiert indes, arbeitet mit harten Fakten, die seine Vertreter*innen bis ins Parlament tragen. Seine Bürokratie ermöglicht das Gespräch, mit allen.
(Katalogtext, as)