Der siebente Kontinent
Spielfilm, AT 1989, Farbe, 104 min., OmeU
Diagonale 2016
Regie, Buch: Michael Haneke
Darsteller:innen: Birgit Doll, Dieter Berner, Leni Tanzer, Udo Samel, Silvia Fenz, Elisabeth Rath, Georg Friedrich, Robert Dietl, Georges Kern
Kamera: Toni Peschke
Schnitt: Marie Homolkova
Originalton: Karl Schlifelner
Produzent:innen: Veit Heiduschka
Produktion: WEGA-Filmproduktion
Vorlauf zum Tod der bürgerlichen
Familie Schober in drei Akten:
1987, 1988, 1989 ... Schwarzblende.
Michael Hanekes Kinodebüt
verbindet das Bedürfnis der Familie
nach Flucht aus der Monotonie des
Alltags mit dem Akt des Sehens,
also dem Kino. Anders über die
Welt nachzudenken bedeutet auch,
sie anders zu sehen. Der siebente
Kontinent ist der Versuch, unseren
Blick neu zu konfigurieren und so die
Möglichkeit einer Flucht zu eröffnen.
Vorlauf zum Tod der bürgerlichen Familie Schober
in drei Akten: 1987, 1988, 1989 … Schwarzblende.
Zum Abschluss: ein trocken formuliertes
Textinsert, das uns wissen lässt, dass die Eltern von
Georg nicht an den kollektiven Selbstmord der Familie
glauben und Anzeige wegen Mordes durch unbekannt
eingebracht haben.
Deutlich wird jedoch in den vorhergehenden
104 Minuten von Michael Hanekes Kinodebüt, dass
es keine schuldige Person gibt und dass es auch
nicht um die psychologischen Untiefen der Figuren
gehen kann, die zu diesem Schritt geführt hätten.
Vielmehr sind es Strukturen und Abläufe, Routinen,
die sich einschleifen, die dem Leben seine Leere
(und damit vielleicht dem Tod seine Attraktivität)
verleihen: das Klingeln des Weckers um sechs Uhr
morgens, die Fahrt zur Arbeit, die Monotonie der
Arbeitsprozesse, des Einkaufens, der Autowäsche,
des Briefeschreibens, kurz: die Art und Weise, mit
der Welt umzugehen und in ihr zu leben. Von Anfang
an verbindet Haneke diese Art zu leben mit der Art zu
sehen. Er koppelt das Nachdenken und Fühlen in der
Welt an das Sehen (und damit an das Kino): der Blick
durch die Windschutzscheibe der Familienkutsche
im wöchentlichen Waschgang, das Kartografieren
des Auges in Annas (Georgs Frau) Optikerbetrieb,
Evis (Georgs Tochter) Behauptung in der Schule, sie
sei blind geworden, und – natürlich – das Fernsehen.
Der siebente Kontinent erzählt vom (missglückten)
Versuch der Familie, diesen Strukturen zu entkommen,
und ist selbst als Film gegen eingeschliffene
Seh-(also Denk-)Strukturen gerichtet. Nah an
den Kleinigkeiten, Oberflächen und Handgriffen
des Alltags hebt die Kamera jeden Moment für sich
hervor, lässt spürbar werden, wie Routinen und Konventionen
den Blick verengen und klein machen und
größere Zusammenhänge ins Unsichtbare, das Off
des Bildes, verdrängen. Einmal erzählt Georg seiner
Familie, was seine Mutter kurz vor ihrem Tod
gesagt habe: „Manchmal stelle ich mir vor, die Menschen
hätten statt eines undurchsichtigen Kopfes
einen Monitor, auf dem ihre Gedanken erscheinen.“
Der siebente Kontinent ist der gezielte Versuch, den
Blick zu verschieben und dadurch andere Bilder
auf diesem Monitor, der unser Kopf ist, erscheinen
zu lassen: nicht nur ein Fliehen vor etwas (und in
den Tod), sondern auch der Wunsch nach einem
anderen Ort (in der sinnlich erfahrbaren Welt) –
nach einem ästhetischen Kontinent, zu dem man
aufbrechen könnte.
(Alejandro Bachmann)
Und obwohl die erste Reaktion überzogen, der
erste Festivalbericht allzu dreist und das Gefühl, im
eigenen Land ein Meisterwerk aufweisen zu können,
geradezu pathetisch war: Während der Vorführung
des Films Der siebente Kontinent im Palais du Festival
in Cannes, im Mai 1989, hatte ich erstmals bei
dieser Veranstaltung (und wie nur selten bei einem
österreichischen Spielfilm) den Eindruck, scharfes
Denken und ungedämpfte Empfindung mitzuerleben.
(Alexander Horwath, Der Standard, 1989)
Er verzeichnet die Erschöpfung in der Monotonie,
registriert erste Irritationen, hält den von keiner
Euphorie, keiner sonderlichen Gefühlsregung
begleiteten Aufbruch in den Selbstmord fest. Die
Kälte sei es, die uns allen zu schaffen macht, sagt
Haneke. Welch ein aufwühlender Impuls, wenn man
ihr so kühl begegnen kann.
(Hans-Dieter Seidel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1989)
Danach: Michael Haneke im Gespräch mit
Alexander Horwath (Direktor Österreichisches
Filmmuseum)