RELATIV EIGENSTÄNDIG
Dokumentarfilm, AT 2017, Farbe, 66 min., OmeU
Diagonale 2017
Regie: Christin Veith
Buch: Konzept: Christin Veith
Kamera: Andi Winter und alle Schüler/innen der Theatergruppe "die Bäume"
Schnitt: Christin Veith, Cordula Thym
Originalton: Richard H. S. J. Bruzek
Musik: Matthias Picher
Sounddesign: Cordula Thym
Weitere Credits:
Farben: Andi Winter
Produzent:innen: Christin Veith
Produktion: FilmFilm
Beste künstlerische Montage Dokumentarfilm 2017
Zwei Schulen, zwei Welten, ein besonderes Dokumentarexperiment: In der Grazer Fröbelgasse stehen sich eine Mittelschule und eine private Modellschule unmittelbar gegenüber. Drei Jahre lang wurden zwei Kameras unter den Jugendlichen beider Schulen weitergegeben. RELATIV EIGENSTÄNDIG ist das äußerst amüsante Produkt dieser Alltagsdokumentation der Heranwachsenden. Von der spielerischen Begleiterin entwickelt sich die Kamera über die Jahre zum Kummerkasten oder zur Privatbühne für Selbstdarsteller/innen.
Auf der einen Seite heißen die Schüler/innen Ado und Burak, und die Eltern arbeiten als LKW-Fahrer oder Putzkraft – auf der anderen Seite wird bildnerische Erziehung im Hauptfach unterrichtet, und die Eltern sind Kunsttherapeut/innen oder Grafiker/innen. Hier hängen im Eingangsbereich des Schulhauses Willkommensgrüße auf Aramäisch und Bosnisch – dort fantasievoll gestaltete Selbstporträts der Schüler/innen. Zwei unterschiedliche Welten also? Zumindest eine Sache haben beide Lehranstalten gemeinsam: die Freuden, Nöte und Albernheiten ihrer heranwachsenden Besucher/innen. Umso interessanter das Experiment, das Filmemacherin Christin Veith im Rahmen eines gemeinsamen Austauschprojekts gestartet und gemeinsam mit Andi Winter konzeptuell umgesetzt hat. Drei Jahre lang wurden unter den Jugendlichen der Fröbelschule und der Modellschule Kameras weitergegeben. Die 13- und 14-Jährigen sollten sich gegenseitig filmen, einander befragen, Schulhaus, Alltag und Freizeit dokumentieren. RELATIV EIGENSTÄNDIG ist das Ergebnis dieses äußert amüsanten Austauschs, bei dem die Kamera zur Zeugin, Archivarin und Vermittlerin zwischen den beiden Welten wird. Vom spielerischen Begleiter entwickelt sich das Dokumentationsinstrument über die Jahre zum Kummerkasten bei Liebesproblemen oder zur kleinen Privatbühne für Selbstdarsteller/innen.
Wunderbar feinfühlig und mit viel Empathie für die Pubertierenden zeigt der Film das vorsichtige Kennenlernen. Es gibt gegenseitige Ausflüge in die geografisch so nahen, emotional bisher jedoch unendlich fernen Schulhäuser, die Angebote der Cafeteria werden verglichen, Vorurteile werden geäußert, und es wird abgecheckt, was die Eltern beruflich so machen. Mit erstaunlich viel Selbstironie und Reflexionsvermögen begegnen die Pubertierenden den Zuschauer/innen, die sich einige Schmunzler über so manch entwaffnende Offenheit nicht werden verkneifen können. Was die Jugendlichen so bewegt, fangen sie selbst ein, den Fokus und die Themen bestimmen sie eigenständig. Indem Veith sich lediglich durch Auswahl und Schnitt der Materialfülle in den Film einbringt, stellt sie auch unterschiedliche dokumentarische Herangehensweisen zur Disposition – und erlaubt einen ungewöhnlich wertfreien Blick auf tatsächliche jugendliche Lebensrealitäten und den Zustand des hiesigen Bildungssystems.
Nach drei Jahren passen die Nasen wieder in die Gesichter, Freundschaften haben sich verändert, der Traum von der Arztkarriere auch. Wer sind die Gewinner/innen? Auf jeden Fall die, die jetzt den James Bond aus Bosnien kennen und sich über die selbsterfundenen Vampirgeschichten amüsiert haben.
(Katalogtext, ast)
Zur Person
Andi Winter ist in diesem Jahr die Reihe „Zur Person“ gewidmet.