Die Untoten von Neuberg
Dokumentarfilm, AT 2018, Farbe, 57 min.
Diagonale 2018
Regie, Schnitt: Ulrich A. Reiterer
Kamera: Ulrich A. Reiterer
Stephan Bergmann
Fabian Czernovsky
Nora Jacobs
Julian Stampfer
Weitere Credits: Interviews:
Claus Philipp
Stephan Bergmann
Super8-Kamera:
Kelly Copper
Pavol Liska
Nach zwei Jahren Vorbereitungszeit
und 28 Drehtagen im
Rahmen des „steirischen herbst“
2017 ermöglicht die Diagonale
erste Einblicke in ein eigentlich
unmögliches Projekt: die
filmische Adaption von Elfriede
Jelineks monumentalem Gespensterroman
„Die Kinder der Toten“,
gedreht mit Laiendarsteller/innen
in obersteirischen Kindheitsorten
der Nobelpreisträgerin, gebannt
auf 666 Rollen Super-8-Film.
Ergänzend zu einem Making-
of von Ulrich A. Reiterer
und zum ersten Videointerview
mit Elfriede Jelinek seit der
Verleihung des Literaturnobelpreises
2004 zeigt die Diagonale
ab 9. März eine Ausstellung mit
Setfotos von Ditz Fejer im Feinkost
Mild (siehe S. 4). Vom Status
quo des Filmprojekts berichten
Involvierte zudem im Rahmen
von „Diagonale im Dialog“.
Will man Die Kinder der Toten als Film- und Performanceprojekt
oder, wie Journalist/innen schrieben,
als „soziale Skulptur“ auf ein Bild kondensieren,
dann wäre es vielleicht dieses hier: ein ausrangierter
Eisenbahnwagon im Niemandsland hinter dem Veranstaltungszentrum
Mürzer Oberland in Kapellen bei
Neuberg. Darin Menschen, die sich alle 15 Minuten
im Rahmen einer 144-stündigen Dauerlesung von
„Die Kinder der Toten“ abwechselten: „Tosende Stille“
hieß diese von Andreas Pronegg und Katarína
Csányiová quasi neben die Schiene gesetzte Konfrontation
mit Jelineks Sprachkomposition.
Und daneben: eine brennende Kinoleinwand,
aus der sich schemenhaft „Untote“ den Weg hinaus
in die Nacht bahnen. Anders als in Jelineks Roman
kommen sie in der filmischen Adaption des Nature
Theater of Oklahoma nicht aus dem ausgehöhlten
Erdreich, sondern aus (Super8-)Filmen, angesichts
derer die Menschen verstorbene Angehörige und
eine mörderische Vergangenheit beweinen.
Viele, die dieser „Auferstehung der Toten“ beim
zweiten von drei „großen Drehs“ in und rund um Neuberg
beiwohnten, hatten naturgemäß keine Ahnung,
was beim großen „Crash“ eine Woche davor passiert
war bzw. wie die „große Parade“ der Untoten quer
durch Kapellen aussehen würde. (Dass sie ausgerechnet
in der Nacht vor der Nationalratswahl angesetzt
war, war ein ungeplanter Zufall.)
Information war also ein wesentlicher Bestandteil
der Dramaturgie für Die Kinder der Toten: Information
über ein Buch, das kaum jemand kannte;
Information über Elfriede Jelinek und warum sie ihr
Meisterwerk ausgerechnet in Neuberg platzierte,
Information über die Geschichte des Super8-Films,
über Wesen und Unwesen von Dreharbeiten usw.
Eine wesentliche Aufgabe erfüllte vor diesem
Hintergrund der Filmemacher und Dokumentarist
Ulrich A. Reiterer. Im Auftrag des „steirischen herbst“
sollte er ursprünglich kurze Clips und Interviews zum
jeweiligen Stand des Projekts erstellen. Sehr schnell
wuchs sich diese Tätigkeit aber aus zu mehreren
Stunden über die „Untoten von Neuberg“, aus denen
Reiterer nun also für die Diagonale ein erstes Making
of kompiliert hat. Ebenfalls ein in dieser Ausführlichkeit
nicht vorhersehbares Dokument, das er mit
Veronica Kaup-Hasler und Claus Philipp gestaltet
hat: Die Steiermark hasse ich am allerwenigsten, das
erste Videointerview mit Elfriede Jelinek seit der Verleihung
des Literaturnobelpreises 2004.
Wer sich einmal auf Die Kinder der Toten eingelassen
hat, kommt von ihnen so schnell nicht wieder
los. Diese Erfahrung machte auch der Fotograf Ditz
Fejer, der ursprünglich für das „herbst“-Magazin
„Theorie zur Praxis“ einige Porträtaufnahmen des
Nature Theater in Neuberg machen sollte, in weiterer
Folge eine Hauptrolle im Film übernahm und schließlich
als Setfotograf eine umfassende Dokumentation
ablieferte. Einige seiner Fotos sind während der Diagonale
im Grazer Café Mild ausgestellt.
Er selbst schreibt anlässlich dieser Präsentation:
„Die befleckten Kühe, die durch die Nebelwand
kamen, über einen Monat lang und mit Hakenkreuzen
vor der Haustür. / Im Nebel und im Schnee, im
Regen. Die Palatschinken-Fratzen, die ständig und
überall im nervösen Dauerlicht vor uralter analoger
Technologie inmitten des Gesanges einer sich
immer wieder wiederholenden Mahnung auftraten. /
Ein verkehrtes Auto kam zur Explosion. / GOTT sei
Dank war nicht Winter, wir wären alle unter der Lawine
zum Stillsein gezwungen worden. / Hier gibt es
nur zwei Jahreszeiten, Winter und Kalt. / Ich erschlug
meinen Vater den Förster, missbrauchte meinen Bruder
den Jäger im Gefecht, schoss ihm das Gehirn aus
dem Schädel und zerrte meinen Vater in sein Grab. /
Dann schaufelte ich es zu. / Und der Tag danach.“
(Katalogtext, Claus Philipp)