Diagonale
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Postadresse: 2640 Schlöglmühl
Spielfilm, AT 1990, Farbe, 85 min.
Diagonale 2018

Regie, Buch: Egon Humer
Kamera: Peter Freiß
Schnitt: Karina Ressler
Weitere Credits: Sprecherin: Eva Hosemann
Produktion: Prisma Film- und Fernsehproduktion

 

Provinz und Stadt: das sind zuallererst unterschiedliche Dimensionen von groß und klein, dicht und verstreut. Dennoch unterliegen beide gleichermaßen den Einflüssen globaler wirtschaftlicher und politischer Verschiebungen. Ein Amateurfilm aus den 1970er-Jahren macht die Faszination für Größenordnungen mittels eines Phantom-Ride sichtbar. Egon Humers Postadresse: 2640 Schlöglmühl geht dem Ineinander wirtschaftlicher Umbrüche und individueller Schicksale in der Provinz nach. Eines der zentralen Werke des österreichischen Dokumentarfilms. Ein Highlight des diesjährigen Festivalprogramms.

Der diesem Programm vorangestellte Phantom-Ride eines Amateurfilms aus den 1970er-Jahren macht visuell sichtbar, was im Nachdenken über die Provinz immer wieder in den Fokus rückt: Größenverhältnisse prägen das Zueinander von Stadt und Land, fahrend bewegen wir uns aus Strukturen großer Gebäude, breiter Straßen und aufdringlicher Werbung von Weltkonzernen hinein in ein Geflecht aus Landstraßen und Gässchen, kleinen Häusern und Waldhütten, Ortsschildern und Bahnübergängen.
Egon Humers Postadresse: 2640 Schlöglmühl geht diesen Verhältnissen des Großen zum Kleinen auch jenseits der reinen Oberflächen nach. Sein filmisch- soziografischer Versuch, wie der Film sich selbst in Anlehnung an Marie Jahodas, Paul F. Lazarsfelds und Hans Zeisels Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ nennt, geht von einem Ereignis aus: Im Dezember 1982 wird die Papierfabrik im niederösterreichischen Schlöglmühl geschlossen, 270 Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. Diese wirtschaftspolitische Realität fächert Humer im Folgenden immer weiter auf und verwebt so die Ebenen dieser Katastrophe, macht sie vielleicht sogar erst als solche sichtbar. Vom Großen ins Kleine hinein verfolgt der Film die Auswirkungen unternehmerischer Entscheidungen auf die Gemeinde wie das Individuum. Briefe, die im Laufe des Arbeitskampfes verfasst wurden, sind auf der Tonspur zu hören, verweben sich mit Auszügen der oben genannten Studie und werden mit Radionachrichten aus aller Welt oder einem Fernsehbeitrag über die Mondlandung Neil Armstrongs ergänzt. Zugleich geht das Bild von Individuen aus, lässt diese über die Ereignisse berichten, wobei die Kamera das subjektive Erleben der Personen in eine soziale Realität einbettet: Stück für Stück legen ruhige Fahrten Schlöglmühl – seine Fabrik und seine Häuser, seine Kneipen und Kinderzimmer, seine Kirche und seine Festzelte – als Materialisierung all dieser Ereignisse frei, mit jeder Sekunde wird das Bild der Situation komplexer und zugleich schärfer, wird deutlich, wie das Schicksal der Kleinen stets zugleich Resultat und Teil einer größeren Situation ist.
Antonio Vivaldis „Concerto Grosso“ bildet den musikalischen Rahmen dieses Panoramas, steigt spiralhaft an, fällt plötzlich nieder, reißt träge mit, gibt eine Idee von den Bewegungen, denen ein Dorf und seine Menschen ausgesetzt waren, und setzt ins Bild, was am Ende übrig bleibt: schmutziges Ockergelb, entsättigt-kalte Blautöne, eine Kadrage, die sowohl die Enge des immer gleichen Küchentischs samt Dosenbier und Zigarette oder das Verlorensein im Treppenhaus eines Geisterhauses hervorhebt. Den wirtschaftlichen Fakten und politischen Realitäten stellt Humer eine Stimmung gegenüber, die das körperlich spürbare Resultat einer Entscheidung ist, die fernab an Schreibtischen und Flipcharts getroffen wurde.
Postadresse: 2640 Schlöglmühl ist ein großer Dokumentarfilm, weil er wirtschaftspolitische Zusammenhänge aufzeigt, ohne in die Abstraktion zu gleiten, und das Individuum sprechen lässt, ohne in Verdacht zu geraten, einseitig über ein Ereignis zu berichten. Die Haltung bleibt bei diesem Versuch zu changieren immer klar: Es gilt, die Verlierer/innen dieser Prozesse zu verstehen und sie zu Wort kommen zu lassen, auch als Film Stellung zu beziehen und so ein wenig gegen die Sprachlosigkeit mitanzukämpfen, die das Ende der Fabrik hinterlassen hat.
(Katalogtext, Alejandro Bachmann)

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