SONNE
Spielfilm, AT 2022, Farbe, 89 min.
Diagonale 2022
Regie: Kurdwin Ayub
Buch: Kurdwin Ayub
Darsteller:innen: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka
Kamera: Enzo Brandner
Schnitt: Roland Stöttinger
Originalton: David Almeida-Ribeiro
Szenenbild: Julia Libiseller
Kostüm: Carola Pizzini
Weitere Credits: Casting: Ulrike Putzer | Produktionsleitung: Steven Swirko | Producer USF: Georg Aschauer | Producer: Veronika Franz
Produzent:innen: Ulrich Seidl
Produktion: Ulrich Seidl Filmproduktion
Yesmin, Bella und Nati werfen sich Hijabs über und filmen ihre Playback-Performance zu „Losing My Religion“ mit dem Handy. Tausende Klicks auf YouTube sind die Folge, die drei Freundinnen nun viel gebuchte Stars ausgerechnet für Feste in den religiösen Communities. Zwischen den Mädchen triggert das einen verdrehten Culture Clash, die Leiden der jungen Twerker. Kurdwin Ayubs SONNE ist der beispiellose Film seiner Generation, drängend relevant in Form und Inhalt, die ironische Dekonstruktion jedweder Authentizität.
„Oh life is bigger / It’s bigger than you.“ Zwei Teenagerinnen wälzen sich auf einem Bett. Sie sind in Hijabs gehüllt. Sie lachen. Aus einem Handy dröhnt es weiter: „And you are not me / The lengths that I will go to / The distance in your eyes.“ Verführerische Blicke. Sie twerken ihre Hintern in die Kamera, tun so, als würden sie einander küssen. Zungenspiele. „Oh no I’ve said too much / I set it up.“ Drängen sich gemeinsam in eine Ecke des Zimmers für ein Selfie mit dem dritten Mädchen im Raum, die sie mit dem Handy filmt. Sechsmal sexy Augenaufschlag. „That’s me in the corner / That’s me in the spotlight / Losing my religion.“
Schon diese Eröffnungsszene von Kurdwin Ayubs Film SONNE lässt keinen Zweifel: die „Stimme einer Generation“? Die politisch relevanteste Vollendung von „Form und Inhalt“? Um es mit R.E.M. zu sagen: „Consider this the hint of the century.“
Im Kern die Geschichte einer Mädchenfreundschaft: Pubertät und Internet, Sinnsuche, Unsicherheiten, Distinktionswille und Zugehörigkeitssehnsucht, alltäglicher Rassismus. Yesmin ist in Österreich geboren, mit ihren liebevollen Eltern und ihrem Bruder hat sie sich zwischen kurdischer Community und Wiener Oberstufe eingerichtet. Bella und Nati sind ihre BFFs, die besten Freundinnen. Eine Dreierdynamik, die typische Kapriolen schlägt. Als sie ihre Hijab-Version von R.E.M.s „Losing My Religion“ auf YouTube hochladen, geht das Video viral, sie werden für kurze Zeit zu Stars.
Ayub spart aus, wie die Mädchen für ihre Performance von einem feuilletonistischen Metadiskurs gefeiert werden könnten, und konzentriert sich stattdessen auf deren engstes Umfeld. Die Familie, die Streitereien, die der plötzliche Fame auslöst, die Entwicklungen, die er zwischen ihnen in Gang setzt. „Losing my religion“ meint übersetzt: „Mir reicht es“, und als wäre das nicht genug, werden die Mädchen nun ständig für Feste in den religiösen Communities gebucht. Die Popularität steigt ihnen ein wenig zu Kopf, und während Yesmin sich von ihrer Kultur und den stagnierenden Rollenbildern wegzubewegen versucht, umarmen Bella und Nati das kurdische Patriarchat. Der verdrehte Culture-Clash ist unabwendbar, die Pausen zwischen ihren WhatsApp-Nachrichten werden länger, Antworten auf SMS bleiben aus.
In seiner facettenreichen, akut gegenwärtigen Symbiose aus künstlerischer Form und Inhalt betreibt SONNE die ironische Dekonstruktion kultureller, personeller und virtueller „Authentizität“ – aber auch seiner eigenen Ästhetiken. Vermeintliche Fluchtpunkte werden zu Fallen, Sehnsuchtsszenarien zu Shit. Das Einzige, was da noch sicher ist: Du weißt doch gar nicht, wer du bist.
(Katalogtext, az)