De Facto
Dokumentarfilm, AT/DE 2023, Farbe, 130 min., OmeU
Diagonale 2023
Regie, Buch, Schnitt, Sounddesign, Kostüm: Selma Doborac
Darsteller:innen: Christoph Bach, Cornelius Obonya
Kamera: Klemens Hufnagl
Originalton: Claus Benischke-Lang
Musik: Didi Kern & Philipp Quehenberger
Szenenbild: Selma Doborac (Objekte von Heimo Zobering, Franz West)
Weitere Credits: Übersetzung ins Englische: Peter Waugh
Casting: Ulrike Müller
Farben & Digitales Film Mastering: Andi Winter
Tonmischung: Jochen Jezussek
Produzent:innen: Selma Doborac
In rastlosen Monologen rezitieren zwei Schauspieler Zeugenberichte und Täteraussagen aus nicht genannten zeitgeschichtlichen Konflikten. Ohne Kontexte zu benennen, erzählen sie von der Entfesselung von Gewalt – von (un)menschlichen Abgründen, zu denen De Facto in einer kompromisslosen, beharrlichen und minutiös durchdachten philosophisch-literarischen Verhandlung von Täterschaft vordringt.
Ein Mann sitzt an einem Tisch vor einem offenen Mauerwerk, dahinter ein Wald. Eine unermüdlich nachrückende Wortgewalt füllt den leeren, vorerst kontextlosen Raum. In atemlos-rasantem Monolog legt der Mann seine Zeugenschaft an Gräueltaten ab, erzählt von Lagerarbeit, Erniedrigung, Demütigung, Folter, Gewalt und Vergewaltigung, von gebrochenen Menschen, würdelosem Leben, Überleben und Sterben. Im zweiten Bild erscheint ein weiterer Mann, auch er verkörpert einen Täter. In drei Akten geben die zwei Schauspieler ohne Schnittunterbrechung Zeugen- und Täterberichte von Konflikt-, Krieg- und Gewaltsituationen wieder, ohne historische, geografische oder gesellschaftliche Kontexte zu benennen. Das Gesagte beruht auf Aussagen von Tätern und Überlebenden, Gerichtsurteilen und Protokollen verschiedener zeitgeschichtlicher Geschehnisse.
Losgelöst von Individuen und Systemen ebenso wie von Mitgefühl, Schuldeingeständnis, Verteidigung oder Rechtfertigung verschmelzen die von den Schauspielern verkörperten Standpunkte, Rollen und Perspektiven zu Archetypen von Tätern und bringen in einer konzentrierten Kumulation der Fakten Essenz und Extrem von Tat und Täterschaft hervor: das Ablegen der Vernunft, die freie Enthemmung von Aggression, die Eskalation von Brutalität, die Entfesselung von Gewalt und die Verselbstständigung derselben.
Innerhalb eines minimalistisch ausgestatteten Settings und mit allumfassender Wucht des Wortes übersetzt Selma Doborac die philosophische Auseinandersetzung mit Täterschaft in eine bis ins kleinste Detail minutiös durchdachte filmisch-literarische Komposition, die in ihrer Dauer, Konsequenz und Kompromisslosigkeit beharrlich bleibt wie ein*e Richter*in beim Verhör. Auf inhaltlicher, formaler und sprachlicher Ebene performt De Facto Vorgänge, Strategien und Methoden der Entmenschlichung: Emotionslos, zeit- und effizienzgetrimmt werden Fakten in schauspielerischer Meisterleistung von Christoph Bach und Cornelius Obonya ebenso mechanisch rezitiert, wie die besprochenen Taten ausgeführt wurden. Die filmische Übersetzung der Rolle der Sprache und die dramaturgische Inszenierung von Haltung, Körper, Gestik und Blick bringen eine neue Form der Dokumentation, Archivierung und Weitergabe von Zeugenschaft hervor, für die es keine Abbilder braucht, um zu verstehen. Selma Doboracs De Facto ist ein Meisterwerk über Vernunft, Moral, (un-)menschliche Abgründe und die Essenz von Gewalt.
(Katalogtext, mg)