Otobüs / Der Bus
Spielfilm, TR 1975, 84 min., OmeU
Diagonale 2024
Regie, Buch, Schnitt: Bay Okan
Darsteller:innen: Bay Okan, Björn Gedda, Tuncel Kurtiz, Aras Ören, Nuri Sezer, Hasan Gül, Unal Nurkan, Sümer Isgör, Nadir Sütemen, Yüksel Topçugürler
Kamera: Güneş Karabuda
Originalton: Pierre Begert, Carl Henrik Garstedt, Ivan Seifert, Werner Walter
Musik: Pierre Favre, Leon Francioli, Zülfü Livaneli
Produzent:innen: Bay Okan, Utku Güngen, Jean-Louis Misar
Produktion: Hélios Films (CH)
Koproduktion: PAN Film, Promete Film
Ein klappriger Autobus voll mit türkischen Arbeitsmigranten erreicht von Deutschland aus Stockholm. Der Schlepper kassiert Geld und Pässe und sucht das Weite. Geparkt hat der Bus mitten in der Stadt auf einem großen, belebten Platz. Die Begegnung mit einer fremden Welt inszeniert Bay Okan als surreale Komödie, in die sich immer wieder Albtraumhaftes drängt. Er greift Klischees von Skandinavien als Reich der sexuellen Freiheit ebenso auf wie die kalten Oberflächen der Warenwelt. Ein prophetischer (Halbstumm-)Film.
Eine winterliche Landstraße irgendwo im nördlichen Europa. Ein klappriger Bus hält an, endlich dürfen die Passagiere aussteigen und sich erleichtern. Die vorsichtigen Schritte im Schnee werden zu einem kleinen Tanz, einem Moment der Freiheit. Es sind türkische Männer, die in dem Bus befördert werden. Der Chauffeur bringt sie nach Stockholm. Arbeit, Zivilisation, Reichtum, alles soll hier möglich sein, eine Polaroid-Kamera steht für das Konsumparadies, das nun erreicht ist. Doch das Versprechen ist trügerisch. Der Bus wird von einem Menschenschmuggler gelenkt. Kaum ist das vorgebliche Ziel der Fahrt erreicht, sammelt er Geld und Pässe ein und macht sich aus dem Staub.
Das Fahrzeug („älter als meine Großmutter“, sagt ein Polizist, der nicht recht weiß, was er tun soll) steht auf einem der belebtesten Plätze Stockholms im Parkverbot. Es ist ein bisschen, als würde man für eine versteckte Kamera ein Experiment ausrichten: Wie werden die dahineilenden Menschen reagieren? Was werden die Eingesperrten tun? Die haben das dringende Bedürfnis, den Bus zu verlassen, trauen sich aber nicht so richtig nach draußen. Ins Freie?
Diese Freiheit nimmt Bay Okan in der zweiten Hälfte von Otobüs / Der Bus
zunehmend sarkastischer in den Blick. Sein Zugang zum Filmemachen und zur gefilmten Wirklichkeit ist intuitiv, sein Film dokumentarisch gerade dort, wo er sich vom Glitzer der Einkaufsmeilen in die Hinterzimmer der erotischen Bedürfnisse locken lässt – Zivilisation bedeutet hier Libertinage, für die Arbeitsmigranten also einen heftigen Moralschock. Zugleich notiert Okan mit einer an Jacques Tatis Playtime
erinnernden Lakonik die latente Komik einer liberalen Gesellschaft. Man kann Otobüs
als Sinnbild eines (zu) großen Sprungs lesen: Während die türkischen Männer in Rückblenden Schwarzweißbilder von der Teeernte in ihrer Heimat vor Augen haben, geraten sie in das Scheinwerferlicht eines grell ausgeleuchteten Intimen. Schon 1972 hat Okan das heutige Europa durchmessen – von einem Extrem ins andere. (Bert Rebhandl)