Tastender Blick

Anja Winter ist blind und führt andere, oft ebenfalls blinde Menschen durch Ausstellungen in Berlin. Auf der Tonspur: eine Audiodeskription für das gesamte Publikum. So können sich auch nichtblinde Zuschauer:innen in ein tastendes Sehen einüben, das neue ästhetische Spielräume erschließt.

Anja Winter ist blind und führt andere, oft ebenfalls blinde Menschen durch Ausstellungen in Berliner Museen wie dem Forum Willy Brand, dem Jüdischen Museum und der Deutschen Kinemathek. Ihr Blicken ist ein Tasten und ihr Tasten auch ein Lesen der Welt. Etwa wenn ihre Finger über die Inschrift auf Brands Grab gleiten oder sie einen Thorazeiger präsentiert. Indem die Tonspur eine Audiodeskription für das gesamte Publikum enthält, das Gezeigte also in Sprache „übersetzt“, macht auch das nichtblinde Publikum diese Leseerfahrung, da es lernt, die gesehenen Dinge genauer zu benennen: „Acrylglasquader“ ist präziser als „Vitrine“. Sehende und Nichtsehende teilen sich denselben Film, der nicht nur ein barrierefreies Schauen, sondern auch neues Wissen und neue ästhetische Spielräume schafft. Oder genauer: eine neue Film-Sprache. (Philipp Stadelmaier)