
Der tote Winkel der Wahrnehmung
Innovatives Kino, AT 2025, DCP, 79 min, OmeU
Wien, 1996. Ein Mini-DV-Band mit Aufnahmen für einen studentischen Dokumentarfilm. Alina und Flora befragen wenig glaubwürdige Zeug:innen des Auftauchens außerirdischer Reptilienwesen. Doch schon bald gleiten sie selbst immer mehr ab ins Narrativ: Echsen, die die Menschheit durch Hybridisierung unterwerfen? Klingt plausibel. Irgendwann steht die Hofburg in Flammen, die Vernunft sowieso. Michael Gülzows Mockumentary persifliert auf irrwitzige Art die mediale Logik und Verbreitung von Verschwörungsideologien.
Eins nur vorweg: Die Diagonale möchte in keinster Weise zur Verbreitung von Verschwörungstheorien beitragen und ist überzeugt, dass es KEINE Echsenmenschen gibt, die die Menschheit durch verdeckte Hybridisierung unterwerfen. Diese Überzeugung teilt das Festival mit Michael Gülzow, der diese Bemerkung seinem Film voranstellt, in dem, nun ja, Echsenmenschen die Menschheit durch verdeckte Hybridisierung unterwerfen.
Anzeichen für diese Vorgänge enthalten zwei MiniDV-Tapes aus dem Frühjahr 1996 mit Rohmaterial für einen Dokumentarfilm, mit dem sich Alina und Flora, zwei Studentinnen der TU Wien, an der Filmakademie bewerben wollen. Die beiden befragen Zeug:innen paranormaler Phänomene, wobei sich in Gesprächen mit einem Experten für Tiertelepathie, zwei Bong rauchenden Aluhutträgern und dem Autor des Beststellers
Der tote Winkel der Wahrnehmung
immer mehr die Sache mit den Echsen konkretisiert. Erst tauchen die Wesen in alten Serien und Filmen auf (
Raumschiff Enterprise
,
Die letzte Nacht der Titanic
), dann auf den Straßen Wiens. Eine Soziologin von der Uni bleibt skeptisch. Aber warum trägt sie beim Interview eine Sonnenbrille? Um ihre Reptilienaugen zu schützen? Und was passiert eigentlich, wenn man alle Folgen von
Alf
auf einmal schaut?
„Das Leben ist komisch“, erklärt am Anfang laut Tiertelepath eine hellsichtige Stute. Extrem komisch ist auch Gülzows Found-Footage-Mockumentary, die mit einfachsten Mitteln maximale Effekte erzielt. Der MiniDV-Look verleiht dem Film eine medienarchäologische Dimension: Die Bänder sind Rohmaterial und Ruine, voller Bildstörungen und mehrfach überspielt. Sie sind auch ein historisches (Medien-)Archiv, wobei Gülzow „echtes“ Material um die absurde Fiktion der Reptiloiden ergänzt: Wir stoßen hier auf eine Talkshow mit Arabella Kiesbauer, Filmaufnahmen aus dem Wien der Neunzigerjahre und Radiointerviews mit Jörg Haider. Ausgegraben werden so auch frühere Schichten des österreichischen Rechtspopulismus, dessen verschwörungsaffine Denkweise im „großen Austausch der Menschheit durch ausländisch-außerirdische Reptiloide“ einen nahezu vollkommenen Ausdruck findet.
Denn es geht in dieser Persiflage stets darum, die richtigen Metaphern zu finden. Wie Alina und Flora, die vor der Kamera ihre Aufregung mit immer neuen Bildern beschreiben: Sie sind gespannt „wie ein um einen Elefanten gespanntes Gummiband“ oder „ein Hochspannungsmast“. Alle stehen unter Strom, verständlicherweise, und schuld daran sind einzig und allein die listigen Echsen. (Philipp Stadelmaier)
Buch: Michael Gülzow
Darsteller:innen: Anna Rieser, Julia Posch, Hannes Bickel, Jakob Egger, Philipp Hauß, Anke Zillich, Veronika Zellner
Kamera: Arthur Summereder
Schnitt: Michael Gülzow
Originalton: Francesco Tacoli
Sounddesign: David Seitz
Szenenbild: Theresa Kraus
Kostüm: Sabine Ebner
Weitere Credits: Produktionsleitung: Katharina Rusch
Produzent:innen: Michael Gülzow
Gefördert von: Wemakeit Crowdfunding
UniCredit Bank Austria
Kulturhilfe Schleswig-Holstein
Uraufführung: Diagonale '25
Produktionsformat: digital