Diagonale
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Festival des österreichischen Films
27. März - 1. April 2025, Graz

FilmprogrammRegisseur:innen | Spielplan

 

Samstag, 29.03.
11:00 Uhr, Rechbauer

Wien 1910

DE 1943, Film 35mm, 92 min, dOF

Der Film schildert die letzten Tage im Leben des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger. Monarchisten, Sozialdemokraten, Industrielle und die jüdische Bevölkerung erwarten sehnlich den Tod des umstrittenen Populisten. Im finalen Disput mit dem politischen Rivalen Georg von Schönerer werden zwingende historische Gründe für den „Anschluss“ verhandelt. Dennoch kam Wien 1910 in Berlin nicht gut an, weil Hauptdarsteller Rudolf Forster das Österreichertum Luegers betonte; der Film wurde mehrfach umgeschnitten und letztlich verboten.

Mitten in Wien steht ein Denkmal, das an einen erinnert, der schon über 115 Jahre tot ist, einst der prägende Bürgermeister der Stadt war, die maßgeblichen Schritte zur Gründung der Christlichsozialen Partei setzte, sich so sehr als scharfer Agitator des politischen Antisemitismus hervortat, dass er sogar Hitler in jungen Jahren beeindruckte: der Populist Karl Lueger, um dessen „schwerwiegendes“ Vermächtnis – ein Monument auf dem noch immer nicht von seinem Namen bereinigten Platz – es in letzter Zeit zu heftigen Debatten kam.

Wien im März 1910. Durch die Straßen der Stadt hallt der Ruf „Der Lueger liegt im Sterben!“ – worauf wir die erste Hälfte des Films der charismatisch gezeichneten Figur des altehrwürdigen Bürgermeisters in den letzten drei Tagen seines Lebens folgen. Vor dem Hintergrund seiner bisher getätigten, oft umstrittenen politischen Entscheidungen werden Protagonisten der verschiedenen gegnerischen Lager vorgestellt, die großes (Eigen-)Interesse an der Ankündigung des baldigen Todes des Demagogen haben: Kommerzialrat Lechner von der liberalen Opposition, der Unmengen von Staatsanleihen auf den Markt zu bringen versucht, um die Stadt Wien in den Ruin zu treiben, aber mit seinen Spekulationen Bankrott erleidet und sich das Leben nimmt. Aber auch der Hofadel, gegen den Lueger zeit seines Lebens antihabsburgische Ressentiments hegte, wie er sie in autokratischer Weise auch Victor Adler, dem Führer der österreichischen Sozialdemokratie und Gründer der Arbeiter-Zeitung, entgegenbrachte. (Adler wird als „jüdischer Zeitungsmacher“ diffamiert, dessen Redaktion aufgrund unliebiger Schlagzeilen selbstverständlich durch die Lueger’sche Mobilisierung des „Volkszorns“ zerstört werden darf.) Als Hauptfeinde werden „jüdische Kapitalisten“ inszeniert, gegen die der „kommunale Polarisierer“ jahrelang alle erdenklichen Vorurteile geschürt und diese mit Verschwörungstheorien bedient hat.

Als größter Rivale aber tritt Georg Schönerer auf, dessen Antisemitismus ihn einerseits mit Lueger verbindet, dessen unumstößliche deutschnationale Haltung ihn aber von ihm trennt. Die Konfrontation der beiden Gegner kulminiert im Film in einem fiktiven Disput, der Hitlers Pangermanismus-Ideologie aufgreift und in dem Schönerer resümiert: „Es wird einmal ein Reich sein aller Deutschen“, nicht so ein „Stückwerk“, wie er es im Jahre 1910 empfindet, sondern „ein großes Deutsches Reich“, und jeder, der diese Staatsgeburt zu verzögern suche, begehe „ein Verbrechen an der Geschichte, die sich nicht vergewaltigen lässt“.

Heinrich George verkörpert den völkisch-germanischen Fanatiker wie schon in mehreren NS-Filmen zuvor als massiven Koloss, während der Lueger-Darsteller Rudolf Forster, ebenfalls erprobter Schauspieler der Naziära – und unerklärlicherweise 1940 aus dem amerikanischen Exil nach Berlin und Wien zurückgekehrt –, aufgrund des perfekten Maskenbilds und des gekonnten Einsatzes von Sprache und Gestik ein täuschendes Ebenbild des Volkstribuns erschafft. E. W. Emo, eigentlich vor allem für seine Komödien mit Hans Moser bekannt, inszeniert hier nach Liebe ist zollfrei (1941) seinen zweiten expliziten NS-Propagandafilm und beweist als einer der beliebtesten Wien-Film-Regisseure ziemlich eindeutig Linientreue. Und obwohl Karl Hartl, der Direktor der Produktionsgesellschaft, nach dem Krieg gerne behauptete, man habe sich in der Arbeit den gröbsten Zumutungen der NS-Propaganda widersetzt, ist davon in Wien 1910 nicht viel zu merken. Außerdem schreiben sich auch hier die Kontinuitäten der Karrieren fort: Gerhard Menzel, der wohl erfolgreichste Drehbuchautor jener Zeit, wird, wie fast alle an diesem tendenziösen Film Beteiligten, als politisch nicht belastet eingestuft. Die Außenaufnahmen, etwa des Rathauses oder seines Festsaals für die Ballszene, wurden in Wien gedreht, da aber die Rosenhügel-Studios im Herbst 1941 für die Dreharbeiten zum Zarah-Leander-Film der Ufa Die große Liebe belegt waren, musste man für die Innenaufnahmen in Berliner Ateliers ausweichen.

Zum 100. Todestag analysierte Anton Pelinka 2010 im Standard die populistische, antisemitische Politik von Karl Lueger, einer der wichtigen Identifikationsfiguren für die Austrofaschisten: „Karl Lueger war der Victor Adler des katholisch-konservativen Lagers: die Integrationsfigur, die aus Motiven und Befindlichkeiten eine Bewegung, eine Partei machte; die aus einer Summe vager, oft diffuser Haltungen ein relativ geschlossenes Milieu formte. Lueger begründete das städtisch-bürgerliche Element, das mit dem – noch zu Luegers Zeiten hinzutretenden – bäuerlichen Element das formte, was heute die ÖVP ausmacht, und wofür in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß standen: die wesentliche politische Kraft rechts der Mitte.“ (Brigitte Mayr)



Mit einer Einführung von Günter Krenn. Kuratiert von SYNEMA.  

Regie: E.W. Emo
Buch: Gerhard Menzel
Darsteller:innen: Rudolf Forster, Heinrich George, Otto Tressler, O. W. Fischer, Lil Dagover, Rosa Albach-Retty, Erik Frey
Kamera: Hans Schneeberger
Schnitt: Arnfried Heyne, Munni Obal
Originalton: Otto Untersalmberger
Musik: Willy Schmidt-Gentner
Szenenbild: Karl Weber
Kostüm: Remigius Geyling
Produzent:innen: Karl Künzel (Produktionsleitung)
Produktion: Wien-Film GmbH
Uraufführung: Berlin 1943