Die papierene Brücke
Dokumentarfilm, AT 1987, Farbe, 95 min., OmeU
Diagonale 2016
Regie, Buch: Ruth Beckermann
Darsteller:innen: Betty Beckermann, Salo Beckermann, Herbert Gropper, Robert Schindel, Willi Stern, Rabbi Wassermann, u.v.a.
Kamera: Nurith Aviv
Schnitt: Gertraud Luschützky
Originalton: Josef Aichholzer, Reinhold Kaiser, Heinz Ebner
Produzent:innen: Ruth Beckermann
Produktion: Filmladen
Mitte der 1980er-Jahre bricht Ruth
Beckermann auf, um reisend Spuren
jüdischen Lebens nachzugehen.
Dabei begegnen ihr verschiedene
Konzepte, was das war, ist, und sein
könnte: Rumänien, Czernowitz,
Israel, das Theresienstadt-Set einer
Filmproduktion in Jugoslawien. Bei
der Rückkehr nach Wien zeigt der
Antisemitismus seine widerliche
Fratze in den Straßen. Hier dennoch
leben zu können, bedeutet zu wissen,
wer man hätte sein können.
„Es ist ein seltsames Gefühl, wenn die Ereignisse,
die dein Leben mitbestimmen, Geschichte
werden. Wenn du zum Objekt der Wissenschaft
wirst. Unlängst las ich, man werde sich erst dann
wissenschaftlich mit dem Schicksal der Juden
befassen können, wenn keiner mehr lebt aus der
Generation der überlebenden. Oft dreht sich mir der
Kopf. In diesem Winter bin ich weggefahren“, heißt
es zu Beginn von Ruth Beckermanns Die papierene
Brücke. Die Filmemacherin begibt sich auf eine
Reise, auf die Suche nach der Generation der überlebenden;
durch Rumänien und nach Czernowitz,
wo ihr in Wien lebender Vater herkam, nach Israel
und zum Theresienstadt-Set eines Fernsehdrehs in
Jugoslawien. Schließlich zurück nach Wien, wo Kurt
Waldheims Sympathisant/innen ihre widerlichste
Fratze zeigen.
Immer wieder im Film – im Verlauf der Reise –
eine Kamerafahrt von rechts nach links. Gegen die
Leserichtung, entlang der Gegenwart, die etwas
über die Vergangenheit erzählen kann. Wir sehen
Rabbi Wassermann beim Schächten von Hähnen,
Frau Rosenheck, die zwei Schülerinnen Hebräisch
beibringt, und hören die Geschichte eines
jüdischen Zahntechnikers und Kartenspielers, der
sich 1937 das Leben nahm, weswegen sein Grabstein
nun am Rande des Friedhofs stehen muss.
Immer weiter verschachteln sich die Erfahrungen
und Geschichten, die Wege jüdischer Kultur, die
möglichen Konzepte von Identität innerhalb des
Judentums. Auf der Tonspur begleiten präzise, sensible
Reflexionen der Erzählerin den Film: über das
Erlebte, Gesehene, die Eindrücke, die all dies hinterlässt.
Die Kamera übersetzt unvoreingenommen
und interessiert, mit einem gewaltigen Gespür
für Kadrage und Atmosphäre, den fragenden Blick
der Filmemacherin.
Beckermanns Suchen ist ein Sichtreibenlassen,
Sicheinlassen auf die Bruchstücke der eigenen Identität,
ein Flanieren, das Erkenntnisse bringt, die die
Frage „Wer bin ich“ nicht klarer, sondern komplexer
und damit auch schillernder machen. Geschichte
schreiben heißt hier Gegenwart auffinden und aufzeichnen,
weil sich in ihr Linien abbilden und Spuren
eingraben. Diese sind so vielseitig und widersprüchlich,
dass sich immer wieder die Frage stellt, ob überhaupt
so etwas Allgemeines gesagt werden kann –
über „die Juden und Jüdinnen“ oder „die Geschichte
der Juden und Jüdinnen“. Bis man am Ende nach
Wien zurückkehrt und bei Debatten im öffentlichen
Raum vor Augen geführt bekommt, dass das Andere
immer als einfaches Feindbild konstruiert wird, um
das vermeintlich Eigene zu konstituieren.
Spätestens hier wird klar, dass die Suche nach
jüdischem Leben woanders keine Flucht aus einem
Wien war, dem sich zu entziehen im Film durchaus
plausibel erscheint. Eher verbleibt das Gefühl,
die Erzählerin sei gewachsen und zurückgekehrt.
Nicht weil sie weiß, wer sie ist, sondern weil sie weiß,
wie schwer es ist, überhaupt jemand zu sein. Am
Ende, das erste Mal: eine Kamerafahrt von links
nach rechts.
(Alejandro Bachmann)