Heidenlöcher
Spielfilm, DE/AT 1986, Farbe, 100 min.
Diagonale 2016
Regie, Buch, Schnitt: Wolfram Paulus
Darsteller:innen: Florian Pirchner, Gerta Rettenwender, Matthias Aichhorn, Albert Paulus
Kamera: Wolfgang Simon
Originalton: Michael Etz
Produzent:innen: Monika Maruschko, Peter Voiss
Produktion: Marwo Film
Koproduktion: Voiss Film
Wolfram Paulus’ Heidenlöcher
erzählt von einem Deserteur, der
sich in einer Höhle im Ellmautal
versteckt, während sich in der angrenzenden
Siedlung die Konflikte
zwischen Kriegsgefangenen, Wehrmacht-
Soldaten und Bewohner/innen zuspitzen. Fragmentiert und
impressionistisch thematisiert der
Film das Erinnern selbst.
Im selben Jahr, in dem Kurt Waldheim der Welt
eine vermeintlich glatte, wasserdichte Geschichte
über seine Jahre als Soldat und Wehrmachtsoffizier
anzudrehen versuchte (als wäre nichts einfacher und
eindeutiger als der Umgang mit der Vergangenheit)
und sich bei genauerem Nachfragen doch nie so
ganz erinnern konnte, war im Kino Wolfram Paulus’
fulminanter Film Heidenlöcher zu sehen. Als möglicher
Gegenentwurf zum politisch lapidaren Diskurs
Waldheims lesbar, wird hier präzise, aber fragmentarisch
an eine mögliche Konstellation in Österreich zur
Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnert. Im Kleid eines
Bergwesterns erzählt Paulus vom Deserteur Santner,
der im Winter 1942 in einer Höhle im Salzburger Ellmautal
über die Runden zu kommen versucht, während
im Dorf die Bewohner/innen, Kriegsgefangenen
und Soldaten ein von Konflikten durchzogenes
Nebeneinander praktizieren. Nur sein Sohn Ruap,
der Bergbauer Dürlinger und seine Frau wissen von
Santners Anwesenheit, bis das Geheimnis langsam,
aber sicher in die falschen Hände zu fallen droht.
In kontrastreichem Schwarz-Weiß und messerscharfen
Kadragen verzichtet Heidenlöcher auf
die Dramatisierung der großen Verratsmomente,
der Gewissenskonflikte und der schicksalhaften
Entscheidungen, die man später als Kollaboration,
Widerstand oder Flucht hätte deuten können.
Stattdessen: hochkonzentriertes und doch zurückhaltendes
Hinsehen auf Kleinigkeiten und Handgriffe,
Abläufe und Rituale des Kriegsalltags sowie auf
die Oberflächen, die Schatten und die haptischen
Eigenschaften der Welt am Rande der Zivilisation.
Die Methode Robert Bressons, der für Paulus
ein wichtiger Bezugspunkt war, ist in der Arbeit mit
Laiendarsteller/innen, in den fokussierten, kleinteiligen
Kamerablicken und in einer die Bruchstückhaftigkeit
betonenden Montage spürbar. Dieses
Mosaik aus Eindrücken und narrativen Kleinsteinheiten
fügt sich nur zögerlich aneinander, erst gegen
Ende nimmt die Geschichte richtig Fahrt auf, wenn
sie auf einen möglichen Ausgang der Konflikte langsam,
aber bestimmt zuläuft. Durchgängige hundert
Minuten aber: ein atmendes, körperliches Kino, das
wie die schweren, mit Holz vollgepackten Schlitten
am Hang anmutig durch den tiefen Schnee der
Geschichte walzt.
Zwei Jahre später, am fünfzigsten Jahrestag des
„Anschlusses“, steht ein Soldat, der sich aus Heidenlöcher
auf den Heldenplatz verirrt haben könnte, mitten
auf diesem geschichtsträchtigen Ort. Gezeichnet
vom Krieg, mit heiserer und verzweifelter Stimme
überbringt er als Performance eine Botschaft an
Kurt Waldheim: „O Vaterland, Vaterland, zeig’ uns
den Weg/Dein Gruß soll das Wegzeichen sein.“
Heldenplatz, 12. März 1988 ist Johannes Rosenbergers
Dokument der Aktion, die er in verschiedenste
Bewegtbildformate reißt und mit Archivmaterial kollidieren
lässt. Die Vergangenheit liegt nicht da, sie
steht mitten unter uns – grotesk, verzerrt, schreiend,
zerstückelt. Unheimlich.
(Alejandro Bachmann)
Ich nehme mir die Geschichten aus meinem
Land. Und ich erzähle sie von innen heraus.
(Wolfram Paulus, Profil, 1989)