Pension Boulanka
Spielfilm, DDR 1964, Schwarzweiß, 101 min.
Diagonale 2016
Regie: Helmut Krätzig
Buch: Kurt Bortfeldt, Helmut Krätzig frei nach dem Roman „Künstlerpension Boulanka“ von Fritz Erpenbeck
Darsteller:innen: Bolle, Bärbel (Gina)
Braun, Ursula (Else Päschke)
Dissel, Werner (Dr. Vollmer)
Gorges, Ingolf (Leutnant Lorenz)
Grosse, Herwart (Clown Ulf)
Herden, Peter (Jan Gruyter)
Köfer, Herbert (Colanta)
Laszar, Christine (Frau Sievers)
Mellies, Otto (Robert)
Pelikowsky, Erika (Pensionsinhaberin Boulanka)
Pietsch, Harry (Oberleutnant Becker)
Schröder, Karin (Alti)
Veldre, Erik (Hans Wolter)
Weikow, Doris (Lore)
Weinheimer, Horst (Hauptmann Brückner)
Weiß, Karl-Heinz (Leutnant Brehm)
Kamera: Hans Heinrich
Schnitt: Christel Röhl
Originalton: Horst Mathuschek
Musik: Wolfgang Pietsch
Szenenbild: Heinz Leuendorf, Hans Poppe
Kostüm: Helga Scherff
Weitere Credits: Dramaturgie: Margot Beichler
Produktion: DEFA-Studio für Spielfilme, Gruppe 60
DDR-Krimi im Künstlermilieu: Emmi
Boulanka (Erika Pelikowsky) ist die
liebevolle Wirtin einer Artist/innen-
Pension in Ostberlin. Tür an Tür
haben hier ein Clown, ein Zauberer,
eine Rollschuhtruppe und eine
Hundedresseurin Quartier bezogen.
Ein Gast jedoch, der charmante
Herr Gruyter, hat sich unter seinen
Kolleg/innen vom Zirkus mit seinen
skrupellosen Machenschaften
viele Feinde gemacht, und als er in
seinem Zimmer mit einer Schlinge
um den Hals tot aufgefunden wird,
hat der ermittelnde Kommissar eine
Menge von Motiven zur Wahl.
Der Tatort: ein dunkles Zimmer. Der Ermordete:
sitzt mit dem Rücken zur Tür zusammengesunken
in einem Lehnstuhl. Die „Waffe“: ein um seinen
Hals gebundener Strick, der lose herunterhängt.
Der Kommissar erfasst auf einen Blick: „Hier stimmt
was nicht!“ Wir befinden uns bereits mitten in diesem
außergewöhnlichen kleinen Film noir aus der
DEFA-Werkstatt, der den Mord an einem Artisten in
Rückblenden aufrollt.
Detailgetreu schildert der Kommissar den Verlauf
der Ermittlungen. Diese führen uns schnurstracks
an den Handlungsort, die Künstlerpension
Boulanka nahe der Schönhauser Allee, zu deren
leutseliger Vermieterin und zum bunt gemischten
Völkchen ihrer Bewohner/innen. Emmi Boulanka
(hervorragend dargestellt von Erika Pelikowsky),
die liebevolle Wirtin dieser Ostberliner Herberge für
Artist/innen, die gerade für eine neue Revue proben,
liest ihren oft nicht pflegeleichten Gästen die Wünsche
von den Augen ab. Tür an Tür haben hier ein
Clown, ein Zauberer, zwei Komiker, eine Hundedresseurin,
eine italienische Akrobatenfamilie und eine
Rollschuhtruppe Quartier bezogen. Und natürlich
der scheinbar charmante Herr Gruyter, der jedoch
eine dunkle Vergangenheit hat, die erst durch die kriminalistischen
Nachforschungen offengelegt wird,
nachdem man ihn erdrosselt aufgefunden hat.
Verdächtig sind alle im Haus, weil jede/r früher
oder später in irgendeiner Verbindung zu Jan
Gruyter stand: Als ehemaliger Verfolgter des Naziregimes
kann der Zauberkünstler Colanta bezeugen,
dass Gruyter in Paris 1942 unter anderem Namen
als SS-Spitzel in der Artist/innentruppe seiner
Eltern gearbeitet und diese auf dem Gewissen hat.
Der rätselhafte Clown und Sonderling Herr Ulf hüllt
sich in hartnäckiges Schweigen, weil er Gruyters
leichtlebige Art nicht leiden kann. Ein Tatmotiv
könnte auch die Rollschuhkünstlerin Fräulein Lore
haben, die sich umbringen wollte, nachdem Gruyter
ihr ein Engagement vermasselt und sie verlassen
hat. Ebenso Frau Sievers mit ihren Pudeln und der
Wohnung in Bremen, zu deren überlassung Gruyter
sie gern überredet hätte. Dies gelang ihm aber nicht,
da sie über seine illegalen Machenschaften aus früheren
Tagen Bescheid weiß. Auch der nächtliche
Anrufer Hans Wolter, der noch eine Rechnung mit
dem ehemaligen Kollegen offen hat, käme infrage,
oder die durchtriebene „Rothaarige“, die am Abend
des Mordes eine lautstarke Auseinandersetzung mit
Gruyter hatte.
Ein Fall, dessen Spannung aus dem Geflecht
der Figuren erwächst und der allerlei zu bieten hat:
Mord, Rauschgiftschmuggel, Mädchenhandel,
Betrug bis hin zu Stimmenimitatorkünsten. Auch
wenn Profiling noch nicht in Mode ist, hat Kommissar
Hauptmann Brückner nicht umsonst den Spitznamen
Daktyloskop und wahrhaft gefinkelte Methoden,
um die Verdächtigen einzukreisen. Mit ihm und
seinem Team arbeitet sich der Film durch mögliche
Täter/innen und Kompliz/innen, Mordmotive und
Hintergrundrecherche.
Pension Boulanka, eine frühe Arbeit des
renommierten Krimiregisseurs Helmut Krätzig
(Polizeiruf 110, Tatort), sollte nicht nur die Tradition
der DEFA-Krimis neu beleben, sondern auch einen
Gegenpol zu den in Westdeutschland so beliebten
Edgar-Wallace-Verfilmungen schaffen. Die finstere
Mordaffäre wird aufgehellt durch trockenen Humor,
der sehr sympathisch berührt. Etwa wenn Emmi
Boulanka auf Gruyters lässiges „Schreiben Sie’s auf
die Rechnung“ antwortet: „Umsonst ist nur der Tod –
und der kostet das Leben.“
(Brigitte Mayr)
In Kooperation mit der DEFA-Stiftung