Vor der Morgenröte
Spielfilm, DE/FR/AT 2016, Farbe, 106 min., OmdU
Diagonale 2017
Regie: Maria Schrader
Buch: Maria Schrader, Jan Schomburg
Darsteller:innen: Josef Hader, Barbara Sukowa, Aenne Schwarz, Matthias Brandt, Charly Hübner, André Szymanski u. a.
Kamera: Wolfgang Thaler
Schnitt: Hansjörg Weissbrich
Originalton: Philippe Garnier
Musik: Tobias Wagner
Sounddesign: Bruno Tarrière
Szenenbild: Silke Fischer
Kostüm: Jürgen Döring
Produzent:innen: Stefan Arndt, Uwe Schott, Pierre-Olivier Bardet, Danny Krausz, Kurt Stocker, Denis Poncet
Produktion: Dor Film
Koproduktion: X Filme Creative Pool, Idéale Audience, Maha Productions
Josef Hader Double-Feature:
Vor der Morgenröte und Wilde Maus um € 15
In ihrem Film Vor der Morgenröte beleuchtet die deutsche Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader die letzten sechs Jahre im Leben von Stefan Zweig. In ihrer erst zweiten Regiearbeit gelingt ihr dabei eine bemerkenswerte Annäherung an den Schriftsteller und an den Menschen sowie an die Frage nach der Rolle des Künstlers in Zeiten des Kriegs.
Schief und laut und voller Inbrunst spielt eine Blaskapelle die gerade noch so erkennbare Melodie von „An der schönen blauen Donau“. Nicht auf einem Dorfkirtag irgendwo in Österreich, sondern in einem kleinen brasilianischen Kaff in der tropischen Hitze Bahias. Extra für den Schriftsteller Stefan Zweig hat der so breite wie kurze Provinzbürgermeister diesen Empfang organisiert.
Zweig (Josef Hader) stehen die Schweißperlen auf der Stirn und eine Träne im linken Auge. Die Situation ist absurd, das ganze Arrangement furchtbar schlecht, und Zweig ist froh und traurig zugleich, hier zu sein. Es ist das Jahr 1941, und Zweig befindet sich im Exil. Der Autor ist damals 59 Jahre alt, in Nord- und Südamerika wird er empfangen wie ein Staatsmann, aber in seiner deutschsprachigen Heimat darf er längst nicht mehr publizieren.
In ihrer zweiten Regiearbeit gelingt der deutschen Schauspielerin und Filmemacherin Maria Schrader Bemerkenswertes: die Annäherung an einen Künstler und an einen Menschen über biografische Rahmenbedingungen hinaus, präzis in seinem seelischen Kontext verortet.
Nach einem Drehbuch, das sie mit Jan Schomburg verfasst hat, greift Schrader jene innere Zerrissenheit auf, die ein erzwungenes Exil mit sich bringt. Soweit es aus Zweigs Briefen, seinen Reden und Werken, speziell aus seiner in Brasilien geschriebenen Autobiografie „Die Welt von gestern“ und durch Zeitzeugen erfasst werden kann, dringt sie in seine Befindlichkeit vor und verzichtet dabei auf kausale Folgerichtigkeit, auf die Aneinanderreihung erklärender Sequenzen in einer sinnstiftenden Dramaturgie. Auf die Figuren fokussiert, auch im buchstäblichen Sinne mit wenig tiefenscharfen Bildern durch die Kamera von Wolfgang Thaler, spiegelt ihre episodische Erzählstruktur von vier Kapiteln plus einem Prolog und einem Epilog elegant Zweigs eigene literarische Technik der historischen Miniatur wider, wie er sie etwa in „Sternstunden der Menschheit“ verwendete. Thalers Bilder sind geprägt von dokumentarischem Naturalismus, rhythmisch und effektiv austariert zwischen Nähe und Distanz. Schrader weiß das als Raum zu nutzen für alle Widersprüchlichkeiten, die sie nicht benennen will, die sich aber aus ihrem Blick auf Zweig ergeben.
Wie verhält sich ein Künstler im Krieg? Das ist eine der Fragen, mit der sich Schrader in diesem Film beschäftigt. Zweig hing an der Idee eines vereinten Europa ohne Grenzen, eines friedenstiftenden Kontinents. Diese Utopie zieht sich durch sein gesamtes Werk. Schrader greift diese Vorstellung beinahe als eine zum Scheitern verurteilte Liebesgeschichte auf.
(Katalogtext, az)