Diagonale
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| Filmgeschichte | Die erste Schicht |

Die erste Schicht
von Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar

Das historische Spezialprogramm der diesjährigen Diagonale widmet sich dem Thema Arbeitsmigration. Die ersten sogenannten „Gastarbeiterabkommen“ wurden in Österreich 1964 mit der Türkei und dann 1966 mit dem damaligen Jugoslawien abgeschlossen. Wir wollten die Perspektive verschieben: fort von der Reduktion von Arbeitsmigration auf Begriffe wie Fremdsein, Entwurzelung und Identität, hin zu solchen wie Eigensinn und Emanzipation, zu einem erwachenden Geist der Selbstbehauptung, des Widerstands – und nicht zuletzt zu einer reichhaltigen Kulturproduktion.

Das Themenfeld ist groß und breit gefächert: Parallel zu den ersten Arbeiter:innen machten sich auch Filmschaffende in Dokumentar- und Spielfilmen daran, die Aufbrüche, die Ankünfte und schließlich die Lebenswelten in den sogenannten Gastländern zu behandeln: Die dokumentarischen Kurzfilme von Krsto Papić, Želimir Žilnik oder Miroslav Mikuljan, Spielfilme wie Bogdan Žižićs Ne naginji se van (Nicht hinauslehnen, 1977) oder Let mrtve ptice (Der Flug des toten Vogels, 1973) von Živojin Pavlović handeln von den Versprechungen und Verlockungen des Westens und vom – oft desillusionierten – Zurückkehren in die Heimat. Und sie erzählen von den widersprüchlichen Abhängigkeiten an beiden Orten: Bay Okans Otobüs (Der Bus, 1975) schildert einen surrealen Zusammenprall der verängstigten Neuankömmlinge mit den Einheimischen in Stockholm, Kara Kafa (Schwarzkopf, 1979) von Korhan Yurtsever die Zerreißprobe im Gefüge einer Einwandererfamilie. Erst kürzlich sind die von der türkischen Zensurbehörde verbotenen Originalnegative aufgetaucht, auf deren Grundlage Kara Kafa restauriert werden konnte.

Die Filme der Reihe haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Analphabeten in zwei Sprachen der deutsch-iranischen Filmemacherin Mehrangis Montazami-Dabui zeigt die schulischen Probleme von Kindern mit Migrationshintergrund, die auch eng an die Schwierigkeiten geknüpft sind, sich zwischen zwei Kulturen zurechtzufinden und den eigenen Platz zu finden.

Filmstill aus Kara Kafa © Korhan Yurtsever

Filmgeschichte ist immer mit Kanonbildung verbunden. Die Diagonale sieht sich in der besonderen Position, diese sowie eine nationale Film- und Geschichtsschreibung zur Disposition zu stellen und das Konstrukt der nationalen Identität zu hinterfragen. Welche Positionen sind in „Vergessenheit“ geraten, welche bewusst ausgeschlossen worden, und wie lässt sich eine andere Geschichte schreiben?

Die erste Schicht soll – als Filmreihe auf der Leinwand und als erster Band einer Edition in Buchform – im besten Fall über das Festival hinauswirken sowie Anstoß sein, sich mit einem transnationalen Filmerbe zu beschäftigen und die archivarische Praxis kollaborativ um Filme und Filmdokumente zu erweitern.

Kuratiert wird das Programm von Petra Popović, Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar in Kooperation mit dem ORF und Jurij Meden (Österreichisches Filmmuseum). Die Diagonale dankt Faime Alpagu, Fatih Aydoğdu und Can Sungu für die Unterstützung.

 

Mit Unterstützung des Zukunfts Fonds

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