Diagonale
Diagonale
Diagonale

 

Historisches Special RAUSCH

Happy-End, Peter Tscherkassky © Sammlung Österreichisches Filmmuseum

Die Diagonale freut sich, zwei historische Specials bekanntgeben zu dürfen, die im April beim Festival des österreichischen Films zu sehen sein werden.

Das erste historische Special der heurigen Diagonale ist mit dem Titel RAUSCH überschrieben und umfasst sechs Programme, die gemeinsam von Diagonale, Filmarchiv Austria, Österreichisches Filmmuseum und ORF-Archiv ausgewählt wurden: Wie denkt, inszeniert, verhandelt und thematisiert das Kino den Rausch? Dem österreichischen Film – vielleicht Österreich per se – ist ein Hang zum Rausch nicht abzusprechen. In einer Zeit, in der die berauschte Flucht vor den Zumutungen des Alltags samt ihren Höhen, Tiefen und Abgründen beinahe gänzlich aus der Öffentlichkeit verdrängt wurde, lohnt der Blick ins narkotische Kino gleich mehrfach. Pandemiebedingt wird der Rausch zur politischen Bühne, der persönliche wie gesellschaftliche Umgang damit zur Grundsatzentscheidung. Zwischen 6. und 10. April führt die Filmreihe RAUSCH in Graz von Michael Glawogger über Kurt Kren bis hin zu Mara Mattuschka, Ulrich Seidl und Sabine Derflinger … Prost!

Die historischen Specials RAUSCH und COME AND SHOOT IN THALIWOOD sind zwischen 6. und 10. April anlässlich der 25. Diagonale in Graz zu sehen und bieten die rare Gelegenheit, teils eigens digitalisierte und restaurierte Arbeiten aus den heimischen Filmarchiven fernab der Hauptstadt zu sehen.

Ekstase, Gustav Machatý © Filmarchiv Austria

Filmprogramm RAUSCH
Nacktschnecken (R: Michael Glawogger, AT 2004)
— In Referenz: Attabambi Scheissmichan (R: Paul Poet, AT/DE 2020)
Contact High (R: Michael Glawogger, AT/DE/LU/PL 2009)
Hotel Rock’n’Roll (R: Michael Ostrowski, Helmut Köpping, AT 2016)
Plasma (R: Mara Mattuschka, AT 2004)
Ekstase (R: Gustav Machatý, AT/CZ 1933)
Rauschlied aus „Künstlerblut“. Tonbild mit Alexander Girardi (AT 1906)
Vollgas (R: Sabine Derflinger, AT/DE 2001)
Hände zum Himmel (R: Ulrike Putzer, Matthias van Baaren, AT 2013)
Che bella è la vita (R: Rainer Frimmel, AT 1997)
Erdbeerland (R: Florian Pochlatko, AT 2012)
Der Ball (R: Ulrich Seidl, AT 1982)
Prost (R: Ernst Schmidt jr, AT 1968)
Schwechater (R: Peter Kubelka, AT 1958)
17/68 Grün-rot (R: Kurt Kren, AT 1968)
Rauchen und Saufen (R: Albert Sackl, AT 1997)
Odessa (R: Catrin Bolt, AT 2011)
Happy-End (R: Peter Tscherkassky, AT 1996)
Dreh & Trink (R: Veronika Franz, Severin Fiala, AT 2013)
23/69 Underground Explosion (R: Kurt Kren, AT 1969)
Die Totenschmecker (R: Richard Jackson, i. e. Ernst Ritter von Theumer sen., DE 1979)
Club 2-Miniaturen (ausgewählt und zusammengestellt von Camillo Foramitti)

Rausch ist ein zentraler Topos des österreichischen Kinos. Zwischen Sinneserweiterung und Lebensbeschränkung fungiert er als Motor in Spielfilmdrehbüchern und Fernsehformaten. Oft berauschen aber schon die Filme selbst. Als vielgestaltiges Leinwandsujet suggeriert er dabei vieles: Leichtigkeit, Wunsch nach Emanzipation, Taumel, Verdrängung, Besinnungslosigkeit, Blödheit, Entstellung, Zerstörung …

Hände zum Himmel, Ulrike Putzer, Matthias van Baaren © sixpackfilm

Von der Provinz in die Stadt, von der Jugend ins hohe Alter, von der Tourismusindustrie in den Privatraum, von Leben und Tod …

Das Herzstück der Reihe RAUSCH bildet die Sex, Drugs and Rock’n’Roll-Trilogie von Michael Glawogger. Während bereits der erste Part Nacktschnecken (AT 2004) als Ausnahmeerscheinung in der heimischen Lustspiellandschaft verblüffte, ist es insbesondere der Mittelteil Contact High (AT/DE/LU/PL 2009), der aufgrund seiner psychedelischen Heiterkeit als Meilenstein gilt. Seine große Abschlussparty findet das dreiteilige Spielfilmprogramm in Hotel Rock’n’Roll (AT 2016), nach Glawoggers frühem Tod von Michael Ostrowski und Koregisseur Helmut Köpping realisiert. Zur Einstimmung auf Contact High wird außerdem der wahrnehmungsverändernde Kurzfilm Plasma (AT 2004) von Filmemacherin und Multitalent Mara Mattuschka, die auch Animationen zu Glawoggers Spielfilm beigesteuert hat, gezeigt.

Apropos wahrnehmungsverändernd: „So ein Räuscherl, nur zur rechten Zeit, hat im Leben keiner noch bereut.“ Mit diesen Worten versetzte Operettenstar Alexander Girardi schon 1906 mittels Tonbild – sozusagen einer frühen, kuriosen Form des Musikvideos – in die richtige Stimmung. Im Anschluss an dieses ist im gemeinsamen Programm der entfesselte Gefühlsexzess Ekstase (AT/CZ 1933) von Gustav Machatý zu sehen. Ekstase ist ein Ereignis – nicht nur und vielleicht sogar am allerwenigsten wegen der skandalumwitterten Nacktszenen der späteren (Hollywood-)Ikone Hedy Lamarr. Nachdem Ekstase jahrzehntelang nur in unzähligen umgearbeiteten oder verstümmelten Fassungen verfügbar war, ist es dem Filmarchiv Austria nun gelungen, die Ursprungsfassung zu restaurieren. Der Film wird im Rahmen der Diagonale’22 endlich so präsentiert werden können, wie ihn Machatý erdacht hat.

Almräusche verspricht das dritte Programm: In Sabine Derflingers Vollgas (AT/DE 2001) läuft die Après-Ski-Maschine noch im gut geölten vorpandemischen Hochbetrieb – eine filmische Blaupause österreichischer Rauschmentalität und damit zusammenhängender touristischer Geschäftstüchtigkeit. Unweit vom radikaleskapistischen wintersaisonalen Partytaumel lädt in Hände zum Himmel (R: Ulrike Putzer, Matthias van Baaren, AT 2013) – ein wahres Kleinod des österreichischen Dokumentarfilms – Skisport- und Schlagerlegende Hansi Hinterseer zur entspannten Bergmesse auf den Kitzbüheler Hahnenkamm. Die Atmosphäre ist friedlich, drogenarm berauscht, faszinierend – und dennoch irgendwie gespenstisch.

17/68 Grün-rot, Kurt Kren © Sammlung Österreichisches Filmmuseum

Souvenirbilder aus Tirol gibt es auch in Rainer Frimmels kurzem gewitzten (Anti-)Heimatfilm Che bella è la vita (AT 1997). Er bildet den Auftakt zu einer Landpartie, die in Florian Pochlatkos euphorisch gefeiertem Abschlussfilm an der Wiener Filmakademie Erdbeerland (AT 2012, Diagonale-Preis Bester Kurzspielfilm) ihre Fortsetzung findet. Erdbeerland erzählt vom Dilemma des Teenagerdaseins zwischen Turnstunden, Alltag und schmachtenden Unsicherheiten im Umgang mit dem begehrten Geschlecht. Exakt dreißig Jahre zuvor und ebenfalls an der Wiener Filmakademie gedreht ist Ulrich Seidls „Provinzposse“ (Stefan Grissemann) Der Ball (AT 1982), in dem dessen Interviewpartner*innen in euphorischer Erwartung über den alljährlich stattfindenden Horner Schulball sprechen. Der Ball ist im Rahmen der Diagonale erstmals in Graz zu sehen.

Rauschhafte Erfahrung verdichtet letztlich auch das Kurzfilmprogramm des historischen Specials. Es trägt den vielsagenden Titel „Prost!“ und versammelt Avantgardekinoarbeiten, die Ekstase, Trance und Euphorie ganz ohne Nebenwirkungen erfahrbar machen. Ihr gemeinsamer Nenner: Alkoholeinfluss. Zu sehen sind Prost von Ernst Schmidt jr. (ein Expanded-Cinema-Lichtspiel, AT 1968) Schwechater von Peter Kubelka (die innovative Nutzung von Bier als Filmmaterial, AT 1958), 17/68 Grün-rot von Kurt Kren (ein Flaschen-Licht-Gedicht, AT 1968), Rauchen und Saufen von Albert Sackl (Tschick und Wein „bis zum Erbrechen“, AT 1997), Odessa von Catrin Bolt (die besoffene Entzauberung der berühmten Stummfilmszene aus Panzerkreuzer Potemkin, AT 2011), Happy-End von Peter Tscherkassky (eine süffige Homemoviezeitstudie, AT 1996), Dreh & Trink von Veronika Franz und Severin Fiala (ein alkoholischer Selbstversuch mit rotierender Kamera, AT 2013) sowie 23/69 Underground Explosion von Kurt Kren (mit Alkohol und Amphetaminen zum Avantgardefilm, AT 1969). In diesem Sinne: Prost!

Club 2 mit Nina Hagen © ORF-Archiv

Ganz im Zeichen des Blutrausches steht Die Totenschmecker von Ernst Ritter von Theumer sen. (DE 1979), der hier unter seinem internationalen Pseudonym Richard Jackson firmiert. Die Totenschmecker ist eine irre 1970er-Jahre-Mischung aus Heimatfilm und Texas Chain Saw Massacre, in der der Regisseur die Vorzeichen der ansonsten friedvollen Heile-Welt-Unterhaltung einfach umdreht. Mindestens so kurios wie von Theumers mannigfaltige und wiederentdeckenswerte Filmografie ist auch die Verwertungsgeschichte von Die Totenschmecker, der nach mehreren erfolglosen Kinostarts mit unterschiedlichen Titeln später sogar in leicht entschärfter Fassung im Fernsehen lief. Die Diagonale’22 bietet die Chance, den Film nun als 35-Millimeter-Projektion wieder im Kino zu sehen.

Ergänzend und frei kommentierend zeigt die Diagonale als kurze Vorfilme des historischen Specials RAUSCH Miniaturen des legendären Fernsehformates Club 2 – ausgewählt und zusammengestellt von Camillo Foramitti. 1976 wurde der erste Club 2 im ORF ausgestrahlt und versorgte Österreich zwanzig Jahre lang mit Gesprächsstoff und unvergesslichen Fernsehmomenten: 1968er-Studentenführer, Kriegsverbrecherwitwe, Pornojäger, US-Außenminister, Nobelpreisträger, selbsternannte Hexen, der Dalai Lama und ein nachmaliger Serienmörder kommen auf der Ledergarnitur des Club 2 zusammen – sie haben etwas zu sagen. G’scheites und Blödes, Inspirierendes, Irritierendes und manchmal Verwirrendes.

„Ein Programm, das sich den Rausch weder schöntrinken noch von Moralinsäure ungenießbar machen lassen möchte. Ein Vorschlag zum Taumel. Immer an der Kippe zum Abgrund.“
— Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, Festivalleitung

 

 

 

Consent Management Platform von Real Cookie Banner