Diagonale
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Kein schöner Land – Blicke in die Provinz, Blicke aus der Provinz

„Einst ging man in die Stadt, um der Provinz zu entkommen. Aber wohin soll man gehen, wenn überall Provinz ist?“
— Kolja Mensing in „Wie komme ich hier raus?“ (Verbrecher Verlag, Berlin 2003)

„Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein.“
— Peter Alexander in Im weißen Rössl(R: Werner Jacobs, AT/DE 1960)

Das Kinoland Österreich erscheint oftmals vor allem als eines: als singuläres Kinobundesland – Wien. Hier hat ein Gros der Filmbranche seinen Sitz, hier befinden sich die beiden zentralen Bewegtbildarchive, hier werken Förderinstitutionen sowie Programmkinos, und hier ist der Hauptstandort des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beheimatet. Nicht ohne Grund ist die Bundeshauptstadt deshalb auch Sujet und Spielort eines Großteils der österreichischen Filmproduktion.

Im historischen Spezialprogramm der Diagonale’18 soll die Hauptstadt in den Hintergrund treten. Gemeinsam, aber aus unterschiedlichen Perspektiven blicken das Österreichische Filmmuseum, das Filmarchiv Austria und das ORF-Archiv aufs Land und suchen nach Perspektiven auf die sogenannte Provinz und aus der Provinz.

Die drei Programmcluster des Österreichischen Filmmuseums, des Filmarchivs Austria und des ORF-Archivs verdeutlichen, dass das Verhältnis des österreichischen Films zu Provinz und zu Provinzialismus als Ideologie ein ambivalentes, jedoch stets gegenwärtiges ist. Eine Neugierde, geprägt von Faszination und beinahe magischer Anziehungskraft, der der österreichische Film auch nicht zu entkommen scheint – zu attraktiv sind die ländlichen Sujets von ikonischen Dorfdiscos, Gastgärten an Salzkammergutseen oder Alpenpanoramen als wahlweise Kulisse oder Kontrast. In Zeiten, in denen die Insignien des Provinzialismus zunehmend gegen Weltgeist und Urbanität in Stellung gebracht werden, erscheint es lohnend, den Blick durch die Kamera des österreichischen Films aufs Land zu richten und vice versa. Eine ebensolche Gelegenheit bietet das historische Special der Diagonale’18.

 

Schöne Tage © ORF/Pichlkostner

Filmarchiv Austria

Programm #1: „Das ist der Zauber der Saison“

Peter Alexander, Roy Black und die Sehnsucht nach der heilen Welt

Durch die Provinz wird die Stadt erst zur Stadt – und umgekehrt. Zumindest in der Ideologie. Erst durch die konstruierte Schönheit der Berge im Heimatfilm wird beispielsweise der urbane Raum zum pervertierten Moloch, zum Ort der Anonymität. Das Filmarchiv Austria begegnet diesem stark romantisierten Bild von der heilen Welt mit einem von Florian Widegger kuratierten Programm über den „Tourismusfilm“ in Österreich, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hat – Zuckerlkino und Briefmarkenfilm als Vignetten des neuen Österreichs. Unter dem Titel „Das ist der Zauber der Saison“ werden Arbeiten von 1948 bis 1971 versammelt, so etwa auch Werner Jacobs Im weißen Rössl (AT/DE 1960), ein Kultfilm, der nicht nur eine Hochphase der Nachkriegsfilmproduktion markiert, sondern wie viele andere Produktionen aus dieser Zeit auch das Hotel als Sehnsuchtsort und Topos in den Mittelpunkt der österreichischen Filmografie rückt. Im weißen Rössl gilt als Paradebeispiel für das eskapistische Heileweltkino der 1950er- und 1960er-Jahre, traumatisiert seitdem (so hört man) Generationen an den Fernsehgeräten und markiert einen Höhe- und Übergangspunkt vom Heimat- hin zum Schlagerfilm, lange bevor der neue österreichische Film kritische Perspektiven einforderte. Ein Programm, das mit bewusster Re-Lektüre das vermeintlich Bekannte und vielfach Gesehene zu hinterfragen versucht und das Harmlose als sein Gegenteil enttarnt.

Außerdem im Programm: Perfekt in allen Stellungen (AT 1971) von Frits Fronz, Rendezvous im Salzkammergut (AT 1948) von Alfred Stöger und Wer zuletzt lacht, lacht am besten (DE 1971) von Harald Reinl.

 

Im weißen Rössl

Österreichisches Filmmuseum

Programm #2: „Provinz unter Spannung“

Schuld und Sühne im Erdbeerland

Dem gegenüber steht das von Alejandro Bachmann verantwortete Programm des Österreichischen Filmmuseums, das Wiederentdeckungen, selten Aufgeführtes und private Amateurfilmminiaturen in einem sehenswerten Programm kombiniert – eine rare Gelegenheit: Das Überangebot der Stadt markiert darin die Abgeschiedenheit, die Weltferne des Ruralen. Landflucht trifft auf Stadtsucht, Landsucht trifft auf Stadtflucht. Das Hinterland Österreichs als kulturelles Motiv, als Dreh-, Angel- und Reibungspunkt. Unter dem Titel „Provinz unter Spannung“ widmet sich das Österreichische Filmmuseum filmischen Tropen des Provinziellen nach 1968 und versammelt darin eine Vielzahl selten aufgeführter Filme entlang wiederkehrender rhetorischer Figuren: „Jung und Alt“, „Jungs und Mädchen“, „Verbrechen und Strafe“ sowie „Das Große und das Kleine“. Sie bieten eine Orientierung dafür, wie man sich nach 1968 filmisch der Provinz angenähert hat, welche Konstellationen, Konflikte und Motive die Filme prägen. Zu sehen sind unter anderem Fritz Lehners Schöne Tage (AT 1981), Egon Humers Postadresse: 2640 Schlöglmühl (AT 1990) und Angela Summereders Zechmeister (AT 1981). Eingeleitet werden die vier Programme von Amateurfilmminiaturen, kuratiert von Stefanie Zingl, die das Bild der Provinz um private Blicke ergänzen.

Aus der Sicht von Teenagern stellt sich Provinz in besonderer Weise dar: als langweiliger, rückständiger Lebensraum, der zu eng, zu klein, zu unmodern ist und überwunden werden muss. Passend dazu werden Jessica Hausners Lovely Rita (AT/DE 2001), ein Film, in dem sich beobachten lässt, wie sich die provinzielle Stimmung rund um die junge Frau Rita am Ende kathartisch entlädt, und Florian Pochlatkos Kurzspielfilm Erdbeerland (AT 2012), der ein paradigmatisches Teenagerleben eines Buben nachzeichnet, in einem Programm kombiniert. Die Provinz selbst wird in der Arbeit, die 2013 mit dem Diagonale-Preis Kurzspielfilm ausgezeichnet wurde, kaum sichtbar, weil sie für den Protagonisten keine Rolle spielt, ausgeblendet werden muss, um sich selbst glaubhaft zu machen, er sei woanders.

 

Erdbeerland

ORF-Archiv

Programm #3: Perlen aus dem ORF-Archiv

Der Untergang des Alpenlandes: Synthie-Sound, Dorfdisco und Lederhose

Das ORF-Archiv schließlich zeigt drei Fernsehkunst-Fundstücke der Sendereihen Impulse und Metternichgasse 12, die experimentelleren filmischen Formaten in den 1970er- und 1980er-Jahren großzügig Platz einräumten: Das erste Programm ist zwei Ausnahmekönnern der österreichischen Musik gewidmet, dem Jazzmusiker und Komponisten Werner Pirchner und dem Avantgardisten Dieter Feichtner, die in ihrer Anfangszeit zunächst vor der Herausforderung standen, gegen den Widerstand ihres unmittelbaren lokalen und konservativen Umfeldes anzukommen. Zu sehen sind Vom Zuckerl, der Prinzessin und der absahnenden Creme (R: Werner Pirchner, AT 1975), das Musikerporträt Feichtelmannsbilder. Schießen Sie auf Feichtner? Portrait eines Musikers (R: Franz Paul Ebner, AT 1980) und die Tirolsatire Der Untergang des Alpenlandes (R: Werner Pirchner, Christian Berger, AT 1974). Das Programm entstand in enger Zusammenarbeit mit Camillo Foramitti.

Jugendliebe – Wem Gott schenkt ein Häschen (AT 1983), ein Serienpilot mit beeindruckenden emanzipatorischen Momenten von Lukas Stepanik, richtet wiederum den Blick auf Sequenzen nicht unbeschwerten Erwachsenwerdens auf dem österreichischen Land der frühen 1980er-Jahre: Katholizismus, Italienurlaub, erste Liebe, Schwangerschaft, Dorfdisco, Abwanderung und bröckelnde Weltbilder.

 

 

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