Diagonale
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Diagonale Webnotiz 8/2012

von Dariusz Kowalski

 

Der Regisseur Dariusz Kowalski war bei der Diagonale 2012 mit seinem Film Richtung Nowa Huta vertreten. Für diesen Film gewann er den Großen Diagonale-Preis Dokumentarfilm.

Die Berechnung der Wurfballistik

Heute ist es schwül. Es sieht sehr nach Gewitter aus. Ich gehe in den 9. Bezirk zu meinem Papa und seiner Freundin Isa in den Gemeindebau zum Fußballschauen: Polen gegen Griechenland. Meine Hündin Lomo kommt mit, obwohl sie, vollgefressen, lieber auf dem Ikea-Teppich unterm Tisch schlafen würde.

Das Match beginnt hitzig, Papa weist einen Anrufer unfreundlich ab und kommentiert: „Ausgerechnet jetzt, während des Matchs, ruft er mich an, der hätte den ganzen Tag lang Zeit gehabt.“ Die Polen drücken; angetrieben von der Dortmunder Achse mit Piszczek, Blaszczykowski und Lewandowski drängen sie die griechischen Routiniers in die Defensive.
Interessanterweise spielen polnische Legionäre, wie das Duo Podolski/Klose, immer besser in ausländischen Vereinen als zu Hause. Nach einer schönen Flanke von Blaszczykowski köpfelt Lewandowski in der 17. Minute auf 1:0 für Polen. Vor lauter Aufregung muss die Tomatensuppe bis zur Pause warten. Isa ist nämlich abergläubisch und meint, dass es immer dann, wenn sie in die Küche geht, für die Polen gefährlich wird. Also bleibt sie lieber vor dem Fernseher sitzen. Rauchen verdrängt den Hunger, die Wolken ziehen sich mehr und mehr zusammen, es wird immer dunkler und schwüler. Der Papa, sportlich, mit nacktem Oberkörper, nur in Unterhose, springt immer wieder wild gestikulierend von seinem Fernsehsessel auf, sodass Lomo jedes Mal erschrickt. Sie möge doch zu den Polen halten; obwohl sie eine ungarische Vizsla ist.
Auf dem polnischen Kabelsender werden Lech Wałęsa und Donald Tusk, der kurz im Fußballtrikot eingeblendet wird, zur Lage der polnischen Mannschaft befragt: Wałęsa gibt sich kämpferisch und sagt Ergebnisse voraus, Tusk versucht verhalten dem Kampfgeist der „Burschen“ das Beste abzugewinnen.

Nach der Pause und einer roten Karte für Sokratis, wirken die Polen, obwohl in der Überzahl, wie gelähmt. Die Griechen verwerten die allererste wirkliche Chance eiskalt zu einem 1:1 und in der 68. Minute überlisten sie die Abseitsfalle der Polen, sodass ausgerechnet der Torhüter für den Torraub eine rote Karte kassiert. Der Elfmeter für die Griechen wird zur Zerreißprobe innerhalb der Familie. Der Papa, sichtlich frustriert, geht jetzt schon vor dem Fernseher hin und her – im ersten Spiel bereits das letzte vorausahnend, worauf Isa gegen ihn wettert, er sei immer so ein Schwarzseher! Sie ginge jetzt nicht aus dem Zimmer, denn das brächte Unglück, und der Torhüter werde schon halten! Lomo geht jetzt auch schon hin und her, weil ständig plötzlich aufgesprungen und wieder hingesessen wird, was sie nicht mag. Das Risotto muss wohl bis zur Analyse mit Herbert Prohaska warten. An Essen ist erst einmal nicht zu denken!

Selten verursacht der Tormann selbst den Elfmeter: „Handbremse“ heißt das in Wikipedia-Deutsch, und „Torraub“ im österreichischen Sprachraum. Durch den medialen Luxus der Zeitlupe wird der Zuschauer vor dem Fernsehapparat zu einem veritablen, unsichtbaren Mitwisser, wie bei Hitchcock. Er sieht im dramaturgischen Dreieck von zwei Spielern und dem Schiedsrichter mehr als die kickenden Antagonisten und der Schiedsrichter selbst. Zeitlupe und Wiederholung sind ein willkommener Ersatz für den Sitzplatz im Stadion und bieten darüber hinaus genügend Raum für basisdemokratisches Kommentieren vom bequemen Fernsehsessel aus.

Der Elfer wird geschossen und der polnische Torhüter hält! Wir haben es geschafft! Noch ist Polen nicht verloren! Dabei fällt mir der leicht missverständliche Titel von Handkes Roman „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ ein, der eigentlich auf etwas anderes hinaus will: Nur dem Tormann, der sich völlig ruhig verhält, schießt der Schütze den Ball in die Hände, und nicht darauf, dass der Tormann Angst hat beim Elfmeter. In Wahrheit schrumpft das 7,32m breite Fußballtor eher für den Schützen auf die Größe des Tors in einem Wuzzeltisch. Wie traumatisch die Spieler verschossene Elfmeter erfahren, zeigte sich kürzlich im Championsleague-Finale, als Sebastian Schwein­stei­ger auf der Ehrentribüne sogar den deutschen Bundespräsidenten ignorierte. Als Gauck ihm bei der Pokal-Zeremonie die rechte Hand entgegen­ge­streckte, missachtete der Bayern-Profi diese Geste, indem er mit lee­r abwesendem, niedergeschlagenen Blick an Gauck vor­bei schlich. Seit dem Championsleague-Finale gibt es über einen anderen Bayernspieler Arjen Robben einen Witz: Welche Tiere können nicht Elfmeter schießen? Robben eben.

In den verbleibenden 20 Minuten des Matchs denke ich an die zauberhafte Dramaturgie der 90 Minuten: an den ersten Plotpoint im Anfangsviertel, in dem die Charaktere eingeführt werden; dann der mittlere Block, in dem die Protagonisten und ihre Widersacher für ihre Überzeugung hart gegeneinander kämpfen; und in der letzten Viertelstunde die Auflösung, nachdem sich die Ereignisse mittlerweile gegenseitig so mit Bedeutungen aufgeladen haben, dass das Happy End praktisch greifbar scheint. Da allerdings gleicht die Dramaturgie des Fußballs oft eher jener der griechischen Tragödie: Gnadenlos und blindlings ungerecht sorgen die Götter dafür, dass dem Gegner auch noch in der 89. Minute der Ball auf den Kopf oder sogar in den Nacken fällt, und schon heißt es: Tor!!! Das Schicksal wendet sich gegen alles, was im Spiel passiert ist, gegen alles, was man sich ausgedacht hatte: in einem Moment zeigt sich die ganze Ungerechtigkeit dieser Welt! Das ist das ontologische Fußballböse schlechthin: Es zerstört jede Logik und alle dramaturgischen Regeln.

Nach dem Spiel, als wir versuchen die Ereignisse dieses Eröffnungsspiels nach und nach zu verdauen, taucht im Zimmer eine Motte auf, die zuvor, in der Hitze des Gefechts, noch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle geblieben war. Jetzt macht sie durch ihren wirren Flug vor dem Fernsehapparat auf sich aufmerksam, so lange, bis sie, die Angehörige einer wirklich unglücklichen Spezies, gejagt wird. Denn im Vergleich zur Fliege fliegt sie viel zu langsam, was die Berechnung der Wurfballistik von Hauspantoffeln wesentlich erleichtert.

Heuer läuft die Zeitlupe bei der EM überhaupt und weit über eine Zweckästhetik hinaus zu künstlerischer Hochform auf. In HD sind die Spieler schon fast besser zu sehen als auf 35mm, und die Kameraleute müssen Klassiker wie Fußball wie noch nie, oder Zidane, A 21st Century Portrait gesehen haben. Dabei gibt es zwei Einstellungstypen: die medizinische – bis zum Bauch, die uns vor allem das Dribbeln, die Fouls und Tricks näher bringt, und die epische, die uns, wie in Bill Violas Zeitlupenserie The Passions, den emotionalen Inhalt vermittelt.
Die Fernsehregie inszeniert die ambivalenten Momente und Übergänge von Staunen, Jubel, Verzweiflung und Schmerz in Zeitlupe, beinahe wie in The Quintet of the Astonished, Bill Violas, von Hieronymus Bosch inspiriertem Tableau.

Das Match ist aus. Endlich regnet es. Griechenland-Polen 1:1. Gerade noch ein Unentschieden im Eröffnungsspiel. Ich gehe über den Gürtel nach Hause, während es wie aus Kübeln schüttet, die Blaulichter der Feuerwehrautos heulen, eine Pensionistengruppe watet knöcheltief durchs Wasser. Ausweichen ist unmöglich, also wate ich mit Lomo durch die Pfützen. Ihr gefällt das besser als Fußball.

(Mit Dank an Axel Fussi)

Die Diagonale-Webnotizen wurden von 2010 bis 2015 von der BAWAG P.S.K. unterstützt.

Der Standard ist Medienpartner der Diagonale-Webnotizen.
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