Historisches Special
Sehnsucht 2020 – Eine kleine Stadterzählung
Die 22 Filme von Sehnsucht 2020 – Eine kleine Stadterzählung kreisen um die Schlagworte Stadt und Sehnsucht im österreichischen Film. Das Programm ist vom 25. bis 29. März anlässlich der Diagonale in Graz zu sehen. Ein gemeinsames Special von Diagonale, Filmarchiv Austria, Österreichisches Filmmuseum und ORF-Archiv.
Die Filme des historischen Specials der Diagonale’20 führen an Orte, die das Wechselspiel zwischen gebauter und gelebter Stadt nachvollziehbar machen – vom Gemeindebau im Roten Wien bis an den Hausmeisterstrand an der oberen Adria, von der idyllischen Provinz über die städtische Peripherie und weiter in die Megastädte dieser Welt, von der zwielichtigen Unterwelt Frankfurts bis in die buntesten Ecken des queeren Opernmilieus, vom verheißungsvollen Manhattan bis ins magisch-trashige Graz.
In Anlehnung an das Grazer Kulturjahr 2020, das dieser Tage urbane Zukunftsvisionen und Vorstellungen der Stadt von morgen diskutiert, fragt Sehnsucht 2020 – Eine kleine Stadterzählung nach wahlverwandten historischen Grundlagen und sucht mögliche Hinweise und Antworten auf der Leinwand. Das historische Special bietet die rare Chance, teils eigens digitalisierte und restaurierte Arbeiten aus den heimischen Filmarchiven fernab der Hauptstadt zu sehen.
Filmprogramm Sehnsucht 2020 – Eine kleine Stadterzählung
— It looks like a Japanese Film (R: Sasha Pirker, AT 2011)
Megacities (R: Michael Glawogger, AT 1998)
— Sehnsucht 202 (R: Max Neufeld, DE/AT 1932)
— Sonnenstrahl (R: Paul Fejos, AT 1933)
— Sonnenflecken (R: Barbara Albert, AT 1998)
Nordrand (R: Barbara Albert, AT 1999)
— Der Traum der bleibt (R: Leopold Lummerstorfer, AT 1996)
— Prince of Peace (R: Hans Scheugl, AT 1993)
— Frankfurt Kaiserstraße (R: Roger Fritz, BRD 1981)
— Irgendwann einmal …
Probleme der Jugendlichen in Großsiedlungen (R: Robert Dornhelm, AT 1973)
Jugendzentrum Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost (R: Gustav Deutsch, AT 1977)
Losgelassen – Jugend in Graz (R: Rene Brueger, AT 1986)
— Bezúčelná procházka (Aimless Walk – Spaziergang ins Blaue)
(R: Alexander Hammid, CZ 1930)
Aimless Walk – Alexander Hammid (R: Martina Kudláček, AT/CZ 1996)
Go! Go! Go! (R: Marie Menken, FR 1962–1964)
A Tale of Two Cities (R: Jem Cohen, AT 2007)
cityscapes (R: Michaela Grill, Martin Siewert, AT 2007)
— Eintritt zum Paradies um 3€20 (R: Edith Stauber, AT 2008)
Wie Sand am Meer – Familiennotizen aus Urlaub und Alltag (R: Bernhard Frankfurter, AT 1976)
quadro (R: Lotte Schreiber, AT/IT 2002)
— Magic Graz (R: Curt M. Faudon, Max Vrecer, AT 1972)
Canale Grande (R: Friederike Pezold, AT 1983)
Kino, Film und Stadt
Wahlverwandt seit Anbeginn
Von der Stadt(-bahn) ins Kino ist es nicht weit. Historische Analogien zwischen Stadt und Film gibt es viele. Etwa zwischen dem Lauf der Bilder durch den Kinoprojektor und dem durch das Fenster der Stadtbahn segmentierten Blick, den Fahrgäste auf eilig vorbeiziehende Häuserfronten erhaschen. Auch den Aspekt der Anonymität scheinen Großstädter/innen und Kinogänger/innen gleichermaßen zu schätzen: Beide genießen es, gemeinsam alleine zu sein. Lichtspieltheater und Kinos locken überdies mit Zerstreuung und Vergnügen – ein Glücksversprechen, das sie mit den vielfältigen Reizen urbaner Habitate teilen. Kino, Film und Stadt – allesamt versinnbildlichen sie Fantasien und Sehnsüchte, die stets auch ins Gegenteilige zu kippen drohen – allesamt bieten sie die Möglichkeit, sich in betörend funkelnden Lichtern zu verlieren. Dahinter: eine mitunter triste Realität. Diese Überschneidungen sind Ausgangspunkt zahlreicher Auseinandersetzungen mit der Wahlverwandtschaft von Stadt und Film – in diesem Fall mit dem österreichischen. Sehnsucht 2020 – Eine kleine Stadterzählung erzählt von Flaneur/innen und Großstadtbewohner/innen. Von jenen, die es aus der Provinz in die Stadt zieht, um hier ein neues Leben zu beginnen. Von Enttäuschten, denen just dieses Glücksversprechen im Moloch der Großstadt zum Verhängnis wird.
Von sozialen und architektonischen Gefügen
Die Erzählung des historischen Specials beginnt mit zwei frühen Filmperlen, zwei eigens veranlassten Neurestaurierungen aus dem Filmarchiv Austria: Die turbulente Verwechslungskomödie Sehnsucht 202 (R: Max Neufeld, DE/AT 1932) und die Gemeindebauerzählung Sonnenstrahl (R: Paul Fejos, AT 1933) kreisen um die von sozialen Spannungen und Zerwürfnissen geprägte Zwischenkriegszeit. Aspekte erodierender Solidarität ziehen sich genauso wie die Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität durch das gesamte Spezialprogramm. Ebenjene Frage, wie es sich zu leben lohnt, stellen sich letztlich auch die jungen Erwachsenen in zwei Arbeiten von Barbara Albert: in Sonnenflecken (AT 1998) sowie in ihrem Kultfilm Nordrand (AT 1999), der kurz vor der Jahrtausendwende exemplarisch für den Aufbruch einer neuen Generation österreichischer Filmschaffender stand. Bereits ein Jahr vor Nordrand zog es Regisseur Michael Glawogger für seinen ikonischen Dokumentarfilm in die titelgebenden Megacities (AT 1998) unseres Planeten. Das Schlagwort Globalisierung prägte damals viele politische Debatten und verschaltete regionale Herausforderungen mit geopolitischen Fragen. In seiner dokumentarischen Langzeitbeobachtung Der Traum der bleibt (AT 1996) spürt Leopold Lummerstorfer den Sorgen, Sehnsüchten und Hoffnungen der Bewohner/innen des Wiener Gemeindebaus Trabrenngründe nach. Nach vielen Jahren ist auch dieses Opus magnum, einer der bemerkenswertesten Dokumentarfilme dieses Landes, wieder auf der Leinwand zu sehen – genauso wie eine frühe ORF-Reportage von Robert Dornhelm über Jugendbanden in einer damals nagelneuen Siedlung an der Peripherie der Großstadt. Diese offiziellen und für den Rundfunk gedrehten Aufnahmen konterkariert der kürzlich verstorbene Künstler und Filmemacher Gustav Deutsch. Sein erster Film (Jugendzentrum Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost, AT 1977): ein wertvolles, dem Direct Cinema nahestehendes Dokument über das Jugendzentrum der Per-Albin-Hansson-Siedlung und die damaligen sozialpolitischen Vorstellungen im Umgang mit Jugendlichen. Die Jugendlichen in der Steiermark fragte Rene Brueger 1986 indes für Losgelassen – Jugend in Graz nach ihren Sehnsüchten.
Wo die Stadt Urlaub macht
Oder: Das Glück liegt so nah (und fern)
Das Filmprogramm von Sehnsucht 2020 – Eine kleine Stadterzählung zeigt auch Orte, an denen das kleine Glück haust. Das Linzer Parkbad etwa verspricht den Eintritt zum Paradies um 3€20 (R: Edith Stauber, AT 2008). Reisenden Städter/innen folgt indes der legendäre ORF-Fernsehmacher Bernhard Frankfurter in den 1970er- und 1980er-Jahren an die nördliche Adria (Wie Sand am Meer – Familiennotizen aus Urlaub und Alltag, AT 1976) – Sinnbilder der sommerlichen Zerstreuung und kurzen Erholung vom Arbeitsleben. Die Stadt gilt als Ort der Verdichtung genauso wie als Durchzugsraum: ein Verweis, dass Mobilität und Diversität Kernmerkmale urbaner Lebensräume sind. Schnelllebige Beobachtungen, winzige Details und der genaue Blick für scheinbar Nebensächliches prägen Martina Kudláčeks außergewöhnliches Künstlerporträt des Fotografen und Filmemachers Alexander Hammid (Aimless Walk – Alexander Hammid, AT/CZ 1996). 1907 als Alexander Hackenschmied in Linz geboren, verschlug es diesen schließlich zuerst nach Prag und später nach New York. Martina Kudláčeks Porträt ist eine eindringliche Stadtgeschichte, in der bei Subway-Fahrten durch Manhattan die womöglich ikonischsten Stadtbilder überhaupt auftauchen. In den Aufnahmen hallt Hammids erster Film aus 1930 nach: Bezúčelná procházka (Aimless Walk – Spaziergang ins Blaue) (CZ 1930), zur Hochblüte der Prager Filmavantgarde und noch vor Hammids Emigration gedreht, ist ebenfalls Teil des historischen Specials. Ein Wiedersehen gibt es 2020 auch mit Paradestrizzi Hanno Pöschl – ebenfalls außerhalb der Landesgrenzen: Was den Wiener Unterweltkönig Johnny in Frankfurt Kaiserstraße (R: Roger Fritz, BRD 1981) nach Deutschland verschlagen hat – wer weiß es schon? Das Kleinod Frankfurt Kaiserstraße ist gemeinsam mit dem schrillen Prince of Peace (AT 1993) von Hans Scheugl zu sehen.
Brutaler Regionalismus trifft architektonischen Brutalismus
Raritäten und bisher kaum aufgeführte Arbeiten wie der kuriose Werbefilm Magic Graz (AT 1972) des kürzlich verstorbenen steirischen Filmregisseurs Curt M. Faudon und dessen Kameramann Max Vrecer, der die Steiermark ganz dem damaligen politischen Zeitgeist entsprechend zwischen kulturellem Erbe und Aufbruch, zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen Jazz, Spielberg und Lodenjanker anzupreisen versuchte, treffen auf medienreflexive Avantgardefilme wie Friederike Pezolds Canale Grande (AT 1983). Mit Sasha Pirker und Lotte Schreiber finden sich zudem zwei Filmemacherinnen im Programm, die mit ihren Arbeiten häufig den Gedanken verfolgen, dass Stadt stets zweierlei beinhaltet: den physisch gebauten, architektonischen Raum sowie eine aus Wahrnehmungen, Lebensweisen und Ideologien bestehende Mentalität – also die Stadt als Gesellschaft.
Ergänzend zum historischen Special präsentiert SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien vier Filmprogramme unter dem Titel Displaced Persons – Keine Heimat, nirgendwo!. Mit Blick auf aktuelle Ereignisse soll das Programm mit Filmen an historische Migrationsbewegungen erinnern, die das Leben der sogenannten Displaced Persons in den Lagern thematisieren und die von emigrierten Filmschaffenden gemacht wurden. Unter anderem von: Peter Lorre, Fred Zinnemann, Alexander Hammid, Terence Fisher und Jonas Mekas.