Diagonale
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Diagonale Webnotiz 1/2017

von Katharina Müller | Katja Schechtner

 

S T A D|T T K I N O

Katharina Müller und Katja Schechtner

Das Projekt STAD|TT KINO entstand im Rahmen einer Kooperationslehrveranstaltung von Katharina Müller und Katja Schechtner im Wintersemester 2016. Katja Schechtner diskutierte mit Studierenden der Architektur Fragen nach der Gestaltung des Systems Stadt im Konflikt zwischen Individuum und urbaner Gesellschaft, Katharina Müller bearbeitete mit Studierenden der Theater-, Film- und Medienwissenschaft das vielschichtige Verhältnis von Kino und Stadt. Foto: Pamela Kultscher

„Die Kunst, die dem Kino am nächsten steht, ist Architektur.“
René Clair

„Unbezweifelbarer Vorläufer des Films (…) ist – Architektur.“
Sergej Eisenstein

Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir heute „Stadt“ sagen? Und welcher Platz bzw. welche Rolle kommt dem Kino darin zu? Um das komplexe Hybrid „Stadt“ zu fassen, eignet sich ein genuin visuelles und visionäres Tool, das zugleich die wesentliche Grundlage unseres Denkens ist: die Metapher. Entsprechend denken Architekt*innen den urbanen Raum in Metaphern: als Haus, als Lebewesen, als Maschine, als Gesamtkunstwerk, als Bühne des Lebens, als Dschungel, als steingewordene Geschichte. Einzelteile werden zu Verkehrsadern, zu Siedlungszellen, zu Straßennetzen. In der metaphorischen Konzeption von Stadt fallen sämtliche Repräsentationen zusammen: Anatomische, technische, genderbezogene. Le Corbusier wähnte sie als „Arbeitswerkzeug“ und „Bestie“ zugleich, August Endell konzipierte die Großstadt 1908 als „Mutter“, aber auch als „ein Märchen, bunter, farbiger und vielgestaltiger als irgendeines, das je ein Dichter erzählte“.

Das Aufkommen des Films erfolgte in Analogie zur Umwandlung der größeren europäischen Städte. Dass der Film zum Kino wurde, geschah über den Umweg der Architektur – die Voraussetzung für den kinematografischen Apparatus ist schließlich eine Spielstätte, und diese ist zunächst einmal im urbanen Raum beheimatet: Kino und Stadt unterhalten von Beginn an eine vielschichtige Liaison. „Since the beginning of the twentieth century (…) the screen (…) became the city square“, bemerkt Paul Virilio.

Die Diagonale ist – nach Stationen in Kapfenberg, Wels und Salzburg – vor 20 Jahren in der Stadt Graz angekommen. Anlässlich des Jubiläums haben sich Studierende der Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Uni Wien und Studierende der Architektur der TU Wien dezentral und im Modus der künstlerischen Forschung mit dem Verhältnis von Kino und Stadt auseinandergesetzt. Zwei Fragen standen im Vordergrund: Einerseits die Stadt als System von Systemen – ob technisch, sozial, kulturell oder administrativ – und welche Auswirkungen der völlige Ausfall (Organversagen), bzw. das unkontrollierte Wachstum (Krebs) eines dieser Systeme haben könnte. Und andererseits die Frage nach dem Kino als soziale Situation im urbanen Kontext. Kino ist – als Treffpunkt, als Erfahrungs- oder Fluchtraum – untrennbar mit der historischen, politischen und baulichen Frage nach seinem Ort verbunden: als konstitutives Element einer Öffentlichkeit nämlich, die – wie die Bewegtbilder selbst – im Begriff ist, sich neu zu verteilen.

Unter dem Titel S T A D|T T K I N O wurden Mechanismen und Auswirkungen dieser Neuverteilung kritisch in den Blick genommen. Ausgangspunkt waren historische Filmdokumente [1] der Stadt Graz (1914 – 1945), plastisch in ihrer augenfälligen Metaphorik: Die durch das Filmarchiv Austria in Kooperation mit den Multimedialen Sammlungen Joanneumsviertel von Nitrozelluloid umkopierten Streifen zeigen u.a. Aufbauarbeiten in den Straßen, die hektische Betriebsamkeit von Bleistiftfabrik, Kinderheim und Schülerhort, die Tuberkulosebekämpfung durch die Kehrrichtabfuhr, den Handel im Schlacht- und Viehhof, die Störungsbehebung einer defekten Stromleitung, das Gaswerk, die Polizei beim Maiaufmarsch, ein Wettschwimmen im „Bad zur Sonne“, einen sich allmählich „erhebenden“ „Volkskörper“, den sich formierenden Nationalsozialismus, Hitler, die Masse, den Wahnsinn, den Tod, seine Industrialisierung. Wo, in all dem, ist und war das Kino verortet – und wo steht es in welcher Funktion heute, wenn wir die postmoderne Stadt denken? (etwa als Roboter, als Netzwerk, als Frontend etc.) Im Resultat entstanden die folgenden 5 Teamprojekte der TFM:

 

Nostalkino

Nostalkino

Nostalkino konzipiert Kino als Gedächtnis und regt zur differenzierten Auseinandersetzung mit einer gemeinhin als „Kinosterben“ zitierten Realität an: „Die zunehmende Abwesenheit von Kinos“ bildet den Kern des Interesses, das Kinoschließen wird dabei als „organischer Prozess innerhalb des Stadtlebens“ verfolgbar: Eine Googlemaps-Karte, die ehemalige Kinospielstätten namentlich und zeitlich lokalisiert, schafft Bewusstsein für die alten Filmstätten: bestehende und abgerissene, das, was sich an ihrer Stelle gegenwärtig befindet: Theater, aber auch Supermärkte, Küchenstudios, Clubs und vieles mehr. Plastisch und visuell erfahrbar werden die Überreste und der bauliche Nicht-Ersatz interaktiv via Instagram. Wie es wohl wäre, die Möglichkeit im Raum zu nutzen und Kino in der Stadt neu zu verorten? Mit dem ehemaligen Phönix Lichtspielhaus im Prutscher-Haus auf der Lerchenfelderstraße wird ein Screening verhandelt.

 

ABGEDREHTES WIEN

ABGEDREHTES WIEN

An der Schwelle von Kino (im Sinne seiner noch vorhandenen baulichen Konkretionen in Wien) und Fiktion (die hier von Film über Tagespolitik bis hin zur Video-Unterhaltung reicht) sowie im Modus der Gegenmontage von Alltagsszene und „Film“ arbeitet irrwitzig das Projekt ABGEDREHTES WIEN. Dabei wird der kritisch infrage gestellte „Wunsch nach einer Grenzziehung zwischen Fiktion und Realität“ in GIFs überführt, die Stadt gerät dabei selbst zum Kino et vice versa. Die globalisierte Stadt dies- und jenseits ihrer touristischen Embleme als ein transitorisches Wahrnehmungshybrid. In diesem All-Inclusive-Theater gehen neben Fiaker und Riesenrad eben auch David Bowie, der Papst und die Kids von South Park ab.

 

MomentS

MomentS

Die Neuverteilung von Laufbild auf mobile Endgeräte macht sich die kreierte App MomentS konstruktiv zunutze, die das „alltägliche Hantieren mit dem Smartphone sowohl als Werkzeug zur künstlerischen Arbeit, als auch als Social-Networking-Tool im urbanen Raum“ begreift und Fragen an die Immersion stellt: Entstanden ist dabei ein „Hybrid aus Foto, Video und Ton, eine moderne Form des Diaprojektors“, die insbesondere der Soundkulisse Raum gibt.

 

Vienna Calling

Vienna Calling

Auditiv reizvoll gestaltet sich das Projekt Vienna Calling : In der Konzeption von Stadt als Klangraum kommen dem Kino kompositorische Funktionen zu. Nachgespürt wurde der städtischen Klangkulisse gleich in mehreren Versuchsanordnungen, u.a. wurden Drehorte auf ihre Akustik hin erforscht. Ihre Verortung in einer Klangkarte ermöglicht eine Rückkehr an diese Orte in ihrem alltäglichen Sound und sensibilisiert dadurch für die Komponente der Ton- und Soundmischung.

 

Stadtbilder

Stadtbilder

„Von Caligari zu Hitler“ und über die Echokammern zu Trump führt eine ganze Reihe an audiovisuellem Manipulationspotenzial: Wie wird aus einem Stadtbild ein „Traumbild“ – und welche Rolle spielt der Zeitstempel eines Films in der Produktion vermeintlicher Träume? Das Projekt Stadtbilder greift die modische Melange aus neuer Technologie und Retrosehnsucht auf. Eine postmoderne Flaneurin schreitet Graz mit dem Smartphone ab, streift dabei die Schaufenster des Kinos. Darüber liegt der Filter und macht „auf alt“. Eskapismus 2.0 trifft hier auf Überlegungen zur Evidenz von Bildern.

 

Unterdessen nützten die Studierenden des „Data, Tech & the City“ Seminars an der TU Wien die Funktion von Bewegtbildern um Fragen nach der Gestaltung des Systems Stadt im Konflikt zwischen Individuum und urbaner Gesellschaft zu stellen.

 

Das Projekt Die Baubehörde für totale Sicherheit zeigt auf, wie die urbane Gesellschaft das Individuum vor den „Gefahren“ der Materialität der Stadt schützt. Kein noch so kleines Unfallrisiko bleibt möglich im System der totalen Alltagssicherheit, der Verwaltungsapparat vergisst auf niemanden – selbst die Tauben müssen vor dem Stephansdom geschützt werden.

 

carLESSisMORE

carLESSisMORE

Doch wie die Stadtbewohner*innen vor ihrer eigenen inneren Zerrissenheit bewahren? Ruhige Garagenplätze oder lebendige Erdgeschosszonen? – Die meisten wollen beides! Wie schnell und endgültig die Balance zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen durch eine einzelne städtebauliche Verordnungsänderung zerstört werden kann, zeigt die Gruppe „1080“. Das Brüderteam von carLESSisMORE hingegen träumt von solch einer Änderung und zeigt auf, wie derzeitiges urbanes „Autoland“, wie z.B. Tankstellen, riesige Parkplätze und Rangierflächen wieder neu von den Bürger*innen genutzt werden könnten, sobald die Stadtpolitik neue Mobilitätsformen gesetzlich verankert.

 

Candyland setzt sich spielerisch mit dem System der Finanzierung von Städten im Widerstreit zwischen Bewohner*innen und Spekulant*innen auseinander. Analog zum Geschicklichkeitsspiel Jenga werden immer mehr Teile aus der Stadt herausgezogen, baulich aufgewertet und oben auf die Stadt gesetzt, bis die Basis der Stadt ausgehöhlt unter den goldenen Penthäusern zusammenbricht.

 

Bubble Trouble

Bubble Trouble

Bubble Trouble zeigt auf, wie sehr die neuen digitalen Medien das öffentliche Leben in der Stadt in digitale Welten verlagern und die Menschen in ihren eigenen Wahrnehmungsblasen einschließen. Die Datenwolke legt sich nicht nur über die Städte, sie sondert das Individuum auch von der städtischen Gemeinschaft ab. Welche Konsequenzen hat dies für den öffentlichen Raum und das öffentliche Leben – und wie sieht die neue Stadtkultur aus, die sich dieser Entwicklung entzieht?

 

Classroom of Tomorrow

Classroom of Tomorrow

In Classroom of Tomorrow fordern die Studierenden dann endgültig die Befreiung von der geistigen und baulichen Beschränkung ihres eigenen Ausbildungssystems auf die genau umschriebenen, tradierten Orte der Wissensvermittlung. Warum nicht Stadtplanung, Architektur oder auch die ganze Bandbreite an sozialen, historischen, technischen Fächern an jene Orte der Stadt legen, an denen sie jetzt schon ihre materielle Ausprägung gefunden haben? Lernen als Diskussion im Kontext – vor Ort, mit den zukünftigen Nutzer*innen – ermöglicht durch eine digitale Wissens- und Organisationslinse, die sich über das Bild der Stadt legen lässt.

Im visualisierten Dazwischen von Utopie und Distopie, in das sich jedes mediale Dispositiv einschreibt, schwebt nicht nur die nostalgische Frage nach der Stadt als (letztes) Kino: Die Perspektivierung ihrer Spielstätten als konkrete Knotenpunkte im Netzwerk „Stadt“ eröffnet Anordnungen, die über die vielfach prophezeite Musealisierung und Denkmalwerdung von Kino hinausgehen: Wo also wollen wir hingehen, wenn wir ins Kino gehen? Welche Räume wollen wir physisch betreten? Und wie schreiben wir das System Stadt zwischen Theorie und Materialität weiter? Schließlich bleibt, solange Körper involviert sind, die Verbindung zwischen urbanem Raum und Film eine haptische, wie Henri Lefebvre (The production of space) festhält: „Space – my space – is first of all my body“.

„How could I know that this city was made to the measure of love? How could I know that you were made to the measure of my body?“ (Marguerite Duras/Alain Resnais: „Hiroshima mon amour“)

[1]  DVD Edition Steiermark: Graz 1914 – 1933 (2010)/ Graz 1934 – 1945 (2011). Red.: Karl Wratschko. © Filmarchiv Austria.

 

 

Katharina Müller ist Kulturwissenschaftlerin und lehrt Film- und Medienwissenschaften an den Universitäten Wien und St. Gallen (HSG) sowie aktuell Gender|Queer Studies an der Akademie der bildenden Künste. Sie betreut zahlreiche Filmfestivals und -veranstaltungen als Moderatorin. Jüngste Monographie: „Haneke: Keine Biografie“, erschienen im transcript Verlag.

Katja Schechtner forscht und lehrt zum Einsatz von Technologie in Städten am MIT Media Lab in Boston, USA sowie derzeit an der Technischen Universität Wien als Gastprofessorin. Ausserdem entwickelt sie urbane Investitionsprojekte für Entwicklungsbanken in Asien, Lateinamerika und Europa. Aktuelle Bücher sind „Inscribing a Square – Urban Data as Public Space“ (Springer), und „Accountability Technologies – Tools for Asking Hard Questions“ (Ambra).

 

 

Die Diagonale’17 zeigt mehrere Kurzfilme, die sich mit Architektur auseinandersetzen:

A Tropical House, Still: sixpackfilm

A Tropical House, Still: sixpackfilm

A Tropical House
Karl-Heinz Klopf, AT 2015, 51 min
A Tropical House wirft einen intensiven Blick auf das Haus des indonesischen Architekten Andra Matin. Beton, Holz, Natur und Mensch verschmelzen in der stringenten filmischen Form zu einer ästhetischen Komposition – Textur und Komfort sind dabei ebenso wichtig wie die Spuren der Erinnerung. Ein lustvolles Spiel mit Kontrasten von Farbe, Materialien und Geschichte(n).

Constructed Futures: Haret Hreik, Still: VG Bild Kunst

Constructed Futures: Haret Hreik, Still: VG Bild Kunst

Constructed Futures: Haret Hreik
Sandra Schäfer, DE 2017, 27 min
Das Viertel Haret Hreik in Beirut ist schiitisch dominiert. Nach außen hin unsichtbar befindet sich dort auch das Hauptquartier der Hisbollah. Constructed Futures gibt Einblicke in den Wiederaufbau nach der Bombardierung im Libanonkrieg 2006 und spürt in vier Kapiteln einer Ideologie nach, die Architektur als Kriegsschauplatz denkt, auf dem über die Konstruktion von Raum, Landschaft und Erinnerung bestimmt wird.

Donald Judd and I, Still: sixpackfilm

Donald Judd and I, Still: sixpackfilm

Donald Judd and I
Sasha Pirker, AT 2016, 4 min
Eine filmische Anekdote über den Minimal-Art-Künstler Donald Judd, der sich beim Besuch des „Schindler House“ in Los Angeles in das Mobiliar verliebt und es nachbauen lässt. In Sasha Pirkers Aufnahmen seines Hauses in Texas treffen die Möbel auf Judds eigene Kunstwerke, während sich der imaginierte Raum der Vergangenheit – durch die Erzählung seiner Lebensgefährtin evoziert – wie eine Patina über das Zimmer legt.

Du, meine konkrete Utopie, Still: Zara Pfeifer

Du, meine konkrete Utopie, Still: Zara Pfeifer

Du, meine konkrete Utopie
Zara Pfeifer, AT 2016, 10 min
In einem filmischen Essay kombiniert Zara Pfeifer analoge Fotos und iPhone-Audiomitschnitte zu einem atmosphärischen Blick auf das in den 1970er-Jahren in Wien erbaute modernistische Wohnprojekt Alt-Erlaa und seine zahlreichen Freizeitclubs. Es ist eine eigene kleine Welt – eine bis heute gelebte Utopie aus Beton und Neonröhren, Geselligkeit und Freizeitspaß.

 

Venus & Peripherie, Still: Josephine Ahnelt

Venus & Peripherie, Still: Josephine Ahnelt

Venus & Peripherie
Josephine Ahnelt, AT 2016, 21 min
Laut Jacque Fresco muss die Menschheit ihrem derzeitigen Wertesystem abschwören, um sich zu retten: In seinem „Venus-Projekt“ entwirft Fresco die Utopie einer egalitären, ressourcenbasierten Gemeinschaft. Meist asynchron miteinander verwebte Ton- und Bildaufnahmen künden vom Traum von einer besseren Welt.

 

 

Die Diagonale-Webnotizen wurden von 2010 bis 2015 von der BAWAG P.S.K. unterstützt.

Der Standard ist Medienpartner der Diagonale-Webnotizen.
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