Nordrand
Spielfilm, AT 1999, DCP, 106 min, OmeUSammelprogramm: Sehnsucht 20/21: Sonnenflecken & Nordrand
Um die Jahrtausendwende etablierte Barbara Albert mit Sonnenflecken und vor allem mit Nordrand stilbildende Elemente eines neuen Kinos: weiblich, von poetischem Realismus geprägt. In Sonnenflecken leben zwei junge Frauen mit einem kleinen Mädchen am Rande der Stadt. In Nordrand wird Wien zum Begegnungsort neuer Nomad/innen des 21. Jahrhunderts: zum Versprechen eines Neuanfangs, neuer und diverserer Lebensentwürfe. Die Stadt wird zum symbolischen Sehnsuchtsort einer Generation, für die nationalstaatliche Grenzen, Sprache, ethnische Zugehörigkeit, Gender keine Barrieren mehr darstellen sollen.
Barbara Alberts Langfilmdebüt etablierte souverän
und emblematisch für eine ganze Generation von
Filmemacher/innen Topoi und filmische Tropen einer
„Nouvelle Vague Viennoise“: einen sozialen Realismus,
in den Momente des Fantastischen und Poetischen
jäh hineinragen; auf komplexe weibliche Protagonistinnen
zentrierte Erzählungen; ein Interesse an den
Rändern (der Gesellschaft, der Stadt); die Erweiterung
des diegetischen Raums durch dokumentarische
Elemente, Musik- und Tanzeinlagen.
So einflussreich war Nordrand (und in gewissem
Maße auch sein „Geschwisterfilm“, der mittellange
Sonnenflecken), dass der Film selbst bisweilen hinter
die von ihm etablierten Motive und ästhetischen Konventionen
zurücktritt. Zu Unrecht: Denn Nordrand
zwei Jahrzehnte nach seiner Uraufführung im Kino
wiedersehen zu können gibt Gelegenheit, ein Schlüsselmoment
der emphatischen Öffnung des österreichischen
Kinos nachzuvollziehen.
Nordrand und Sonnenflecken verbindet ganz
offensichtlich ihre Konzentration auf Frauen als
Akteurinnen ihres eigenen Lebens. In beiden Filmen
erschaffen sich Frauen neue Gemeinschaften, als
Alternative zu einer Wirklichkeit, die von ökonomischer
und/oder sozialer Prekarität, dysfunktionalen Beziehungen
oder Familien geprägt ist. Uschi und Ildiko in
Sonnenflecken haftet, wie auch Tamara und Jasmin
in Nordrand, nichts Heroisches an: Die Krisen sind
alltäglich und gerade in ihrer Banalität schmerzhaft;
die Träume bunt, fantastisch, von Pop und Schlager
durchsetzt. Wovon träumen? Wann endet Kindheit?
Und wo ist Flucht, ein Neuanfang möglich?
Sonnenflecken spielt noch im anonymen Niemandsland
des Stadtrands und der Autobahnauffahrten:
Das im österreichischen Bewusstsein so
dominante Ländliche neigt sich dem Verheißungsraum
Stadt zu. Nordrand ist durch und durch ein
Wienfilm, aber mit einer bedeutenden Verschiebung:
Albert entfernt ihre Protagonist/innen bewusst aus
dem Zentrum der Stadt, siedelt sie an der Peripherie
oder in Transitzonen wie Busbahnhof, Donauufer oder
der burgenländischen EU-Außengrenze an. Dabei
greift sie zielsicher die Befindlichkeit der Epoche auf:
Wien ist Mitte der 1990er-Jahre eine Stadt, in der sich,
wie Elisabeth Büttner 2010 schrieb, „einheimisch und
fremd (…) repräsentativ und subversiv auflösen; die
Stadt beginnt im europäischen Geflecht wieder einen
eigenen neuen Schwerpunkt zu finden“. Wien wird –
nicht ohne Schmerzen – diverser, durchlässiger: Die
Stadt wagt (wie Alberts Film auch) den Sprung über
die Donau, wird diverser, internationaler; der Krieg in
Bosnien, Verfolgung und Exil kehren wie ein Echo der
1930er-Jahre zurück. Nordrand ist – wie sein implizites
Vorbild, Paul Fejos’ Sonnenstrahl –
eine Hommage auf die Utopie der modernen europäischen
Großstadt: ein Ort, an dem Anonymität auch
Entfaltung, Raum für diverse Identitäten schafft; ein
Raum für Zufallsbegegnungen, des Trosts von Fremden
und neuer, nichttraditioneller Gemeinschaften.
Eine neue Metropole der Transitzonen und flüchtiger
Sehnsuchtsorte, in denen Christine Maiers gleitende,
mobile Kamera gleichzeitig dokumentarisch das Zeitkolorit
wie auch das poetische Potenzial einfängt.
(Katalogtext, Michael Loebenstein)
Buch: Barbara Albert
Darsteller:innen: Nina Proll, Edita Malovcic, Tudor Chirilá, Astrit Alihajdaraj, Michael Tanczos
Kamera: Christine A. Maier
Schnitt: Monika Willi
Originalton: Bernhard Weirather, Andreas Kopriva
Produzent:innen: Erich Lackner, Martin Hagemann, Rolf Schmid
Produktion: Lotus-Film
Koproduktion: Fama Film AG (CH), Zero Film (DE)