Die Figuren in Peter Schreiners Filmen Bellavista und Totó stehen als berufliche Dienstleister am Rand von Gemeinschaften – im Hotel, im Konzerthaus – und versuchen von dort aus eine Standortbestimmung. Unter anderem aus diesem sozialen Wechselspiel zwischen Individuum und Gruppe beziehen die Figuren und mit ihnen die Filme ihre Spannung. Beide Elemente sind gleichberechtigt, gewissermaßen gleich stark, und werden im Film auch so behandelt.
In Fata Morgana ist der Kontakt zur Gruppe gekappt, wenn auch nicht ganz. Da gibt es ein verlassenes Bauernhaus als Zufluchtsort, der den Figuren Schutz bietet, sie aber auch isoliert. Die gegen das Verstummen andenkende (Selbst-)Befragerin Giuliana sieht sich mit einer verwüsteten Landschaft konfrontiert, zerstört durch den Eingriff und Raubbau von Menschen, die sich buchstäblich aus dem Staub gemacht haben. Die Standortbestimmung wird hier auf eine abstraktere Ebene als bei Bellavista und Totó gehoben, in der sich das Gegenüber, die Gruppe, als Fata Morgana, als Trugbild entpuppt, in dem sich das Individuum vergeblich wiederspiegelt. In diesem virtuellen Wechselspiel verstört die Figur des Christian, eines somnambulen Flüsterers und (Selbst-)Zweiflers, der nach einer Selbstauskunft Züge des Regisseurs als junger Mann trägt. Die Konstellation erinnert entfernt an die klassische Dramatik und an Shakespeares King Lear, der ebenfalls, sich von allen verraten und verlassen glaubend und dem Wahnsinn nah, durch eine wüstenähnliche Heide irrt. Aber noch gibt es Getreue, die (von ihm unbemerkt) zu ihm halten, voran seine Tochter Cordelia, Graf Kent (beide von ihm verstoßen) und der Hofnarr, in dem sich der König am Ende so spiegelt, wie es die Figur Giulianas in der Christians versucht. Deren Beziehung lässt an eine spirituelle Beziehung von Gottmutter und Sohn denken, und untergründig trägt sie ödipale Züge. Auch steht die weibliche Figur für die misshandelte Natur (des Menschen), und aus der Verantwortung für ihren Schutz hat sich der (unsichtbare) Mann als (zeugungsunfähiger) Narr davongestohlen. Die Exzentrik des Films liegt darin, dass die Figuren – als Projektionen des Autors – zu einem guten Teil sich selbst spielen (und damit entblößen), und in der unglaublichen Langsamkeit des Gezeigten, die den Voyeur im Zuschauer auf sich selbst zurückwirft, während der sich unterhalten lassen, d.h. von sich selbst ablenken lassen möchte.
Im Begleittext zu Fata Morgana schreibt Peter Schreiner: „Meine innerste Intention bei diesem Film ist die Angst vor dem Verlust einer ‚Erdung‘, die Ahnung, dass Bestehendes zerbrechen könnte.“ Damit benennt er die Conditio für den Ort der Kunst, die nicht erst seit Nietzsche immer wieder erfahren und beschrieben wurde im künstlerischen Prozess, der als Kompensation für existentielle Angst auch tiefe Befriedigung mit sich bringt, wenn es gelingt, den inhärenten Narzissmus in der Arbeit künstlerisch zu überwinden. Mir ist aufgefallen, dass besonders die japanische Literatur der Moderne von einer abgrundtiefen Traurigkeit durchzogen ist. Die erkläre ich mir damit, dass die oben angedeutete randständige Conditio in einer derart auf das Kollektiv, die Gruppe ausgerichteten Gesellschaft wie der japanischen als traumatisch erfahren wird (Die Frau in den Dünen, Das Jagdgewehr).
Die Frage für den Autor ist, wie der persönliche Verlust an Erdung mit den objektiven Verlusten in der Gesellschaft korrespondiert. Für Schreiner steckt die gegenwärtige Zivilisation in einer ‚fundamentalen Krise’. Auch ich empfinde einen zunehmenden Verlust an nachhaltiger Erfahrung (Erdung); d.h. was im Moment der Erfahrung vielleicht noch intensiv erlebt wurde, verflüchtigt sich immer schneller und wird zunehmend bedeutungsloser. Daniel Eisenberg, ein Filmemacher aus Chicago, hat diesen Vorgang so beschrieben:
„Wenn man über unsere fin-de-siècle-Befindlichkeit und die Beziehung zwischen dem Kino und einer zunehmend technologisierten Umgebung nachdenkt, so scheint es, als ob die Erfahrung von zeitlicher Dauer im Verschwinden begriffen ist und von einer überwältigenden Abwesenheit von Erfahrung ersetzt wird, die immer vertrauter und bequemer wird. Da durch Fernsehen und Computer viele Zuschauer an ein beschleunigtes Zeitbewusstsein gewöhnt sind, wird das Unbehagen beim Betrachten von filmisch repräsentierter Dauer in Echtzeit auf der Kinoleinwand immer spürbarer. Es signalisiert den Grad der Gewöhnung an das stetig steigende visuelle Tempo von Montage und Gleichzeitigkeit in unserer Alltagserfahrung. Vielleicht ist es aber auch ein Indiz für das Unbehagen, die Welt in irgendeiner Form der Kontinuität zu sehen, sei es sinnlich oder theoretisch.“
Bei der Beschäftigung mit John Cage stieß ich auf die Schriften Meister Eckharts, eines Mystikers aus dem Spätmittelalter, der sich – wie vor ihm schon Denker in Ägypten, Indien und Griechenland – durch Beobachtung und Studium von Naturprozessen klarzumachen versuchte, wie die Teilchen und Energien im Kosmos und damit auch auf der Erde verteilt sind und zu einander in Beziehung stehen. Was die Wissenschaft heute Teilchenphysik nennt, subsumierte Eckhart unter Gott. Was er über den Gewinn von Erkenntnis schrieb, korrespondiert mit der Positionierung der Figuren in Schreiners Film: „Nichts hindert die Seele so sehr an der Erkenntnis Gottes als Zeit und Raum.“
„Man muss suchen, suchen, gnadenlos sich betrachten mit trockenen Augen“, sagt Giuliana zu sich selbst. Dieser Devise folgt Schreiner in Fata Morgana mit aller Konsequenz und führt seine Figuren an eine Grenze, wo ihnen jeder äußere Halt genommen ist, wo die Sinnfrage zur Existenzfrage wird.