Was passiert, wenn Szenenbilder unkonkret werden?
Eine Filmwelt ist eine Parallelwelt, eine Welt parallel zu der meinen, jetzigen, hier materialisierten, die mich faktisch räumlich umgibt. (Momentan sitze ich mit meinem Computer am Schreibtisch, in meiner Wohnung gegenüber eines Kindergartens, ich höre Kinderlachen mitten in Aubervilliers, einem Vorort von Paris, der Hauptstadt von Frankreich, in Europa, auf dem Planeten Erde, in einem Sonnensystem der Milchstraße.)
Eine Parallelwelt folgt ihren eigenen Regeln, und sie kann sehr gut für sich alleine existieren, ohne dass ich von ihr weiß oder darauf Einfluss nehme. Ich behaupte sogar, dass es mindestens so viele Parallelwelten wie Menschen gibt, da sich jeder von uns durch seine Erfahrungen seine ganz persönliche Idee von Welt aufbaut.
Eine Figur folgt einem weißen Kaninchen, wird von einem Sturm gepackt,
schluckt eine farbige Pille oder schlüpft ganz einfach durch eine Tür in der Wand …
und findet sich unversehens in einer Parallelwelt wieder,
von deren Existenz bis dahin niemand wusste.“
(Daniel Ammann, Eintauchen in die Anderswelt)
Wir bedürfen eigentlich gar keiner Wunderpillen, um in andere Welten einzutauchen, bloßes Zuhören genügt: Geschichtenerzähler/innen ziehen die Menschheit seit Urzeiten in ihren Bann. Es ist völlig unwichtig, ob es sich um einen Reisebericht, eine Gute-Nacht-Geschichte, die aktuellen Nachrichten oder den Tratsch des Nachbarn handelt, ganz unbewusst entstehen dazu Bilder im Kopf, die unsere Idee von Welt bereichern und mitgestalten. (WORT)
Schon viel bewusster begebe ich mich in eine andere Welt, indem ich einen Roman lese oder im Internet surfe. Meine ganz persönliche Handlung – das Aufschlagen des Buches / das Einschalten des Browsers – ist gleichbedeutend mit dem Öffnen einer Tür zu einer anderen Welt, in der ich mich dann nach meinem (Lese-)Rhythmus bewege. (SCHRIFT)
Noch aktiver musste die Menschheit werden, damit sich die raumgreifende Aufführung von Geschichten entwickelte. Tänzerische Darbietungen gab es seit der Steinzeit, aber die Griechen perfektionierten im Dionysostheater (5. Jh. v. Chr.) nicht nur die Darstellung der Geschichten, sie schufen sogar ihr und dem Publikum eigens zugewiesene Räume: Das Theatron (Zuschauerbereich) liegt gegenüber der Skene (Bühne) auf der sich die Szene abspielt. (INSZENIERUNG)
Die Suche nach dem perfekten Spektakel oder Sinnesrausch führte dazu, dass die Methoden der Gegenüberstellung von Akt und Publikum in viele Richtungen gleichzeitig entwickelt wurden.
Betrachtet man die INNERE FORM der Vorführung, kann man Folgendes beobachten: Die Welt auf der Bühne wurde durch technische Inventionen perfektioniert, perspektivisch gestaltete Bühnenbilder suchten den Eindruck von räumlicher Tiefe zu erzeugen, die Dramaturgie des Lichts spielte eine immer gewichtigere Rolle. Über Diorama, Laterna Magica und Zoopraxiskop kam es 1895 zu ersten Filmprojektionen, sie wurden von Anfang an mit musikalischer Untermalung vorgeführt. (MULTIMEDIA)
Im Kino entführen uns Licht- und Tonspiele, das bedeutet unweigerlich eine Dematerialisierung der dargestellten Welt. Sie wurde den Zuseher/innen zusehends unbetretbarer.
Betrachtet man die ÄUSSERE FORM des Spektakels, kann man zwischen zwei wesentlichen Strömungen unterscheiden: Einerseits wurden für Vorstellungen mit der typisch räumlichen Trennung von Bühne und Publikum jeweils spezifische Bautypen, entwickelt: Tempel, Hippodrom, Kolosseum, Theater, Hörsaal, Parlament, etc. – eine massive stete Hülle beherbergt ephemere Inhalte, die Wege von Publikum und Darbietenden werden strikt getrennt. Andererseits wurden immer raumgreifendere Darstellungsmethoden geschaffen, in denen der Mensch Teil des Spektakels werden kann: Ausstellungen, Jahrmärkte, Raumbühnen, Freizeitparks …
All diese Entwicklungen zielen darauf hin, das Publikum komplett in eine andere Welt eintauchen zu lassen, sodass es für ein paar Minuten oder Stunden auf seine eigene vergisst. (IMMERSION)
Die Zuseher/innen verlieren dabei jedoch zunehmend an Freiraum, und dies auf mehreren Ebenen. War es beim Zuhören oder Lesen von Geschichten noch möglich, dass sich die Welt in ihrem Kopf völlig frei und assoziativ gestalten konnte, so waren erst Illustrationen oder später Kostüme, Requisiten und Bühnenteile einerseits visuell bereichernd und andererseits einengend. Obwohl sie die Geschichte eindeutig dramaturgisch unterstützen und stimulieren, nehmen sie mit zunehmendem Realismus jedwedes Bedürfnis, sich selbst ein Bild zu machen.
Wenn wir raumgreifende Spektakel wie Disney World (völlig privatisierte Freizeitwelt), Las Vegas (zum Großteil privatisierte Freizeitwelt) oder Seaside Florida (Gated Community, Drehort der Truman Show) betrachten, so sind der Freiheit der Benutzer/innen noch viel größere Grenzen gesetzt: Alle drei sind gleichsam „Städte in Privatbesitz“, daher handeln sie nach ganz eigenen Gesetzen. Öffentlichen Raum gibt es kaum oder gar nicht mehr.
Bezugnehmend auf den Grad der Immersion kann man sich als Mensch innerhalb des dort herrschenden Regelwerks scheinbar relativ ungezwungen bewegen, aber sicher nicht jedermann und sicher nicht überall hin. Die Ähnlichkeit mit einem Potemkinschen Dorf ist frappant, nichts ist echt, alles Fassade.
(siehe: Abbildung Bruce Bushman / Walt Disney Imagineering)
Noch enger wird es in online-Welten wie Second Life oder Video-Spielen wie World of Warcraft. VR Brillen und Kopfhörer ermöglichen das völlige Ausblenden der aktuellen Umwelt. Irgendwann werden wir uns direkt in unser Nervensystem einstöpseln, was dann auch das Spüren von programmiertem Wetter und Materialität möglich machen wird: Die Immersion scheint perfekt.
Die uns gezeigte Welt ist allerdings zu 100 Prozent digitalisiert, quasi völlig dematerialisiert, sie existiert in dieser Welt nur mehr in Form von Rechnern voll mit Bits und Bytes. Man kann sich scheinbar völlig frei hindurch bewegen, aber auch hier gelten klare Spielregeln und Eigentumsverhältnisse. Obwohl in Welten wie Second Life die Grenzen zur realen Welt relativ diffus sind (man kann echtes Geld verdienen/ausgeben, viele Firmen haben dort Shops), ist der Zugang beschränkt, die Technologie steht nur wenigen zur Verfügung, und die Welt kann im Beleben nicht völlig frei weiterentwickelt und gestaltet werden: Man ist in einem System gefangen.
Ich habe versucht, diese Zusammenhänge darzustellen, auch wenn es schwierig ist, die verschiedenen Verhältnisse eindeutig festzumachen, da es oft zu internen Querverweisen kommt. Deutlich wird jedoch, dass mit zunehmender Konkretisierung der Welt im dreidimensionalen Raum das Publikum scheinbar immer tiefer darin eintauchen und mehr und mehr mit dieser Welt interagieren kann, andererseits aber wird es visuell immer weniger gefordert.
Das KINO scheint an einer Schwelle zu all diesen Entwicklungen zu stehen.
Georges Méliès war 1896 der Erste, der ausschließlich inszenierte Filme drehte. Seine Szenenbilder sind tatsächlich noch simple Bühnenbilder mit gemaltem Hintergrund, ihre Unperfektheit lässt eindeutig auf ihre (vorgetäuschte) Materialität schließen.
Alle Weiterentwicklungen wie Tonfilm, Farbfilm, Geruchskino, Dolby Surround Sound, THX, 3D Kino, VFX, etc. zielen auch hier auf die immer perfektere Illusion hin, auf dass die Zuseher/innen Teil der Handlung werden:
Der Film hat dieses Prinzip der alten räumlichen Künste – die Distanz
und die abgesonderte Geschlossenheit des Kunstwerkes – zerstört.
Die bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewusstsein, mit:
mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein.
Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen.
Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung.
(Béla Balázs, Zur Kunstphilosophie des Films)
Auch hier ein Schritt in Richtung totaler Immersion, allerdings hat die Geschichte einen Haken, wie Béla Balázs weiter ausführt: Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe.
Schon das Husten des Nachbarn kann uns unsanft in die Realität zurückholen.
Wie aber wird eine Filmwelt immersiv? Eine Parallelwelt, die zunächst in (Drehbuch-)Texten von Autor/innen erschaffen wird?
Immerhin wäre ein Film ohne Dekor nackt.
(Helmut Weihsmann: Gebaute Illusionen)
Erst das Szenenbild erweckt sie visuell räumlich zum Leben. Szenenbildner/innen entwerfen Szenerien für fiktive Charaktere, sie statten mit ihrem Team die gesamte Handlung aus, bis hin zu Details wie Fusseln im Teppich. Im Entwurfsprozess spielt die Recherche, also die Erkundung von Lebensumständen eine große Rolle: Kulturelle Codes und ihre Ausformungen werden ganz bewusst studiert und für die Handlung neu interpretiert.
Die schlussendlich geschaffenen Sets kristallisieren sich irgendwo zwischen persönlicher Erfahrung, Fiktion und Realität, sie sind weder komplette Erfindungen noch reine Kopien der Wirklichkeit. Diese Dialektik ist notwendig, um die Illusion einer Filmwelt zu erzeugen, das Dargestellte als Wirklichkeit erlebbar zu machen.
Zeig mir deine Hütte und ich sag dir wer du bist.
Die Gestaltung eines jeden, uns visuell bekannten Objekts fußt auf vielen verschiedenen Vorgänger/innen oder Inspirationen, sei es in seiner Farbe, seiner Form, der Materialität, der Funktionalität oder Gestaltungsdetails. Jeder Kader gezeigter Filmwelt im Kino fußt auf (Ur-)Bildern, die schon in unserem Kopf bestehen. Dies ist ein visueller Anknüpfungspunkt im Kino, ein Tor zu einer anderen Welt. Je besser die gezeigte Welt visuell mit der schon bekannten verwoben ist, umso einfacher ist der Prozess der Immersion.
(vergleiche untenstehende Abbildung mit: Michael Yautis – AT AT Imperial Walker (inspiriert von Star Wars – The Empire Strikes Back)
Das bedeutet nicht, dass die scheinbare Abwesenheit oder totale Reduktion von Anknüpfung an bekannte Bilder und Formen uns als Betrachter/in völlig im Unklaren lässt und keinerlei Zugang gewährt. Unsere bisherige Erfahrung im Kino hilft uns, und die Position unserer Körpers im Raum gibt uns unbewusst ein Koordinatensystem vor, die Möglichkeit, das Gezeigte als räumliche Darstellung zu erfassen. Unsere persönliche Vorstellungskraft tut den Rest.
(siehe Abbildung: Zeichnung von Daniel Libeskind – Micromegas)
Es gilt das Pars pro Toto Prinzip, wir schließen automatisch vom Detail auf das Ganze und vervollständigen die Welt. Jeder für sich, auf seine ganz persönliche Art und Weise. Je abstrakter ein Szenenbild ist, umso mehr ist das Publikum visuell gefordert.
(vergleiche dazu folgende Abbildungen:)
Filmstill Das Cabinet des Dr. Caligari
Filmstill 2001: Odyssee im Weltraum
Filmstill Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach
Von Dogville über Twin Peaks und Dr. Caligari zu 2001, von Mon Oncle über Hundstage bis zur Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach. Immer wieder wagten es Szenenbildner/innen und Regisseur/innen, Mittel anzuwenden, die sonst der Bühne vorbehalten sind: sie abstrahieren, sie verfremden, sie reduzieren, sie überzeichnen, sie verformen …
Nicht die perfekte Fussel-im-Teppich-treue Nachbildung einer möglichen Realität zählt, sondern der inhaltliche Mehrwert, der durch das Weglassen, Überhöhen oder Verfremden gewonnen wird.
Das Publikum behält die Freiheit, den Raum selbst weiter zu zeichnen, und statt völliger visueller Einnahme durch Immersion kommt es zu einer viel tiefgreifenderen und inspirierenderen Verbindung, in dem die Betrachter/innen die Filmwelt in ihrem Kopf weiter weben, sie dadurch mitgestalten und unbewusst ein aktiver Teil von ihr werden.