„Das Alter ist ein dialektischer Bezug zwischen meinem Sein in den Augen anderer, so wie es sich objektiv darstellt, und dem Bewusstsein meiner selbst, das ich durch das Alter gewinne. Es ist der andere in mir, der alt geworden ist, das heißt jener, der ich für die anderen bin: Und dieser andere bin ich.“ (Simone de Beauvoir, Das Alter, 1970)
Gratuliert hatte ich ihnen bereits, es war eine spitzbübische Freude, sie in ihrem neuen Handlungsfeld zu wissen. Ein Handlungsfeld, das erst zu bestimmen sein würde. Klug zu bestimmen und referenziell, mit Umsicht und Feinsinn, mit Intelligenz und jener einstandsbedingten Frechheit, die erwarten lässt, was gemeinhin einen „frischen Wind“ sich nennt – unter Absehung freilich einer gehaltvolleren und angemesseneren Argumentation, wie sie der institutionelle Journalismus mehrheitlich vorenthält.
Die Presse hatte die beiden angelobt, klassisch, namentlich und – z.T. unter der medienobligatorischen Preisgabe ihres eingeklammerten Alters sowie ihrer Herkunft naturgemäß, als ließe ersteres auf eine (oppositionell begründete) Charaktereigenschaft, und die Provenienz auf besondere Fähigkeiten schließen. Wer weiß.
Als „die Oberösterreicher“ waren mir Sebastian H. (30) und Peter S. (26) im Speziellen gar nicht aufgefallen, wohl aber habe ich sie getroffen, da und dort, aus der Ferne ihre Aktivitäten verfolgt, ihre Offenheit demgegenüber, was die (post-)kulturindustriellen Gefüge an vorgeblichem oder tatsächlichem Entwicklungspotential bereithalten, bewundert. Die Schnittpunkte unserer Wege zwischen Universität und Filmfestivals ließen zudem vermuten, dass sie ähnlich sensibel waren, für die Materialität von Geschichte(n), für die Gegenwart des Vergangenen, für die Ambivalenzen national begründeter Kultureinrichtungen und -aktivitäten, für die lebhaft generationenrelativistische Haltung schließlich, dass „jung“ und „alt“ nicht zwangsläufig als Gegensätze aufzufassen, sondern eher gesellschaftlich-kulturelle Zuschreibungen sind, die mit dem subjektiven Empfinden und der Selbstwahrnehmung eines Individuums nicht unbedingt übereinstimmen müssen.
Schließlich bot sich, scheißkalt war es inzwischen geworden, die Gelegenheit, die beiden persönlich und ausführlicher zu beglückwünschen, aber es sollten weder der Zeitpunkt noch der Ort dafür stimmen.
Dabei lief zunächst alles ganz aussichtsreich, wie so oft, bevor Einsicht folgt: Unlängst erst die Publikation zur Dissertation (ein vermeintlich biografisches, im weitesten und transnationalsten Sinne mit dem „Österreichischen Kino“ betrautes Projekt) abgeschlossen. Die außentemperaturbedingte Kälte hatte einen entlastenden Ausgleich mit der thematisch innerlich angestauten zur Folge. Ich würde mich fortan Sonnigerem zuwenden, usw. Näher lag jedoch zunächst, die Website des Filmmuseums zu konsultieren. Es tut stets gut, sich auf Widersprüchliches verlassen zu können. Kleines Update. Und da war sie auch schon, die naheliegende Ferne.
Unter dem verheißungsvollen Titel „Ein anderes Land“ lud die Diagonale im Dezember 2014 kooperativ zu fünf „österreichischen“ Filmgeschichten ins Filmmuseum; an jenem eisigen Abend zur Schau „Nazis“, kuratiert u.a. von Sebastian H. (30), weitsichtig kuratiert, ich frage mich, warum kein Blatt darüber berichtet und die Geste in Diskurs gestellt hat (Wir dürfen annehmen (?): zu wenig „jung“ für das Naheliegende?). Was die Kooperative Diagonale-Filmmuseum veranstaltet hat, war nicht weniger als sich jenem delikatesten, erschreckendsten und dringlichsten Themenfeld unserer Zeit zu verschreiben, das die Notwendigkeit außer Frage stellt; jenem Faschismus, der im vorgeblich Virtuellen so sehr wie im strukturell Institutionellen seine unleugbare, mitunter explizit materialisierte Perpetuierung findet.
Gratulieren wollte ich ihnen also, allein ich war zu früh da, nahm den Umweg über Hrdlickas Mahnmal und hielt dort ein. Der kniende, in tiefste und beschämendste Erniedrigung gezwungene Jude, und das eigene Dastehen, das ihm die Augenhöhe verwehrt, die Verstörung und Distanzlosigkeit, die Möglichkeit des Zusammenbruchs nebst der bronzenen Amortisierung der Opfer allerschrecklichster Barbarei legten sich wie hämische Schatten über mein Vorhaben, das mir nunmehr, vom Gruß über die Gratulation bis hin zu den – meteorologisch bedingt angelegten – Stiefeln, plötzlich befremdlich und untragbar erschien. Ich steuerte zum Filmmuseum, in dem ein Teil von mir nicht ankommen würde.
Der hochgewachsene Lockenkopf und der relational etwas kleinere Blonde standen sehend schon da, der eine zog an seiner Zigarette, ich schloss mich an, ein rauer Wind blies zwischen Filmmuseum und dem Tor der Gewalt.
Schön, euch zu sehn. Wie geht es dir, wie geht es euch, wie geht es uns. Und wir plauderten, zögerlich und im Wissen um die Bilder, die uns bevorstanden. In die tröstliche Wirkung ihrer umsichtigen Gesten schob sich die Erfahrung visueller (Er-)Zeugnisse von Äckern der Entwürdigung, der sanftmütige Ton ihrer Annäherung interferierte mit der Imagination von Panik und Geschrei und dem bitterlichen, erstickenden Flehen in Todesangst um eine Gnade, von der nicht einzusehen ist, wie man sie verwehren kann.
Das war nicht nur, das ist. Das passiert. Das ist „einsehbar“ und „verfolgbar“ im Web. Was ist das?
Aura Filmmuseum, ich versuchte mich zu konzentrieren, einfach da zu sein, aber Konzentration schien mir, es war unhaltbar, das letzte, das hier aufzubringen war, nichts, das mit dem Gefühl und dem Eindruck der Bilder in dem Moment noch kompatibel gewesen wäre, nichts.
Zu ihrem offenkundigen Interesse an meiner Arbeit wusste ich kaum mehr etwas zu sagen, nur, dass es stets schwer ist zu legitimieren, was eigentlich keiner Legitimation bedarf, sagte ich ihnen. Darüber würde ich nicht umhinkommen, wieder und wieder nachzudenken. Mir blieb, in diesem Moment, von dem Projekt, das meine Dissertationsschrift war, nur der Verweis auf jene beachtliche Bemerkung, die ein/e GutachterIn dem Vorhaben voranstellte:
„Warum“, monierte diese/r als wolle sie/er mich eine Traditionalistin oder Nationalistin schelten, „im 21. Jahrhundert noch über eine überholte Kategorie wie das Nationale nachdenken?“
Ich hätte der begutachtenden Person gerne geantwortet, in einem langen Brief oder in einem kurzen, in der Rücksendung des Gutachtens, ergänzt um die Wiedereinfügung der Anführungszeichen meines „Nationalen“, die er/sie ausgelassen hatte; wie auch immer, in einem Brief, den ich jedenfalls nie würde adressieren können – das Procedere sah aus Gründen der Transparenz ihre Tilgung durch Anonymität vor. Es war einfach und auch nicht.
Hier, mit den Jungs, war nicht viel zu formulieren, waren ähnliche Erfahrung und Ernst spürbar, und eine Wahrnehmung demgegenüber, was in der Unendlichkeit zwischen Netz und Traiskirchen sich bald abspielen würde.
Wir teilten, in der Dunkelheit vor dem Filmmuseum, einen leisen Moment und ließen uns dann ein, auf Bilder, die Not tun, auf visuelle Splitter, die am Verstand fräsen, in den Körper gehen und ihn nicht verlassen.
Meine Freude, die beiden in ihrem neuen Handlungsfeld zu wissen, ist in Traurigkeit verstummt. Ich würde ihnen ein andermal begegnen, und wir würden bald reden, über das Leben und die Bilder, nach denen es verlangt so sehr wie über die, die es produziert. Missing images.
Das Neuland wird ein anderes, dasselbe und ein Entwicklungsland sein dürfen müssen.