Zur Person: Jessica Hausner
Mit der Reihe Zur Person richtet die Diagonale’21 ihren Fokus auf die Regisseurin Jessica Hausner und ihr weithin beachtetes Filmschaffen. Ausgehend von ihrem aktuellen Film Little Joe, der 2019 als einziger österreichischer Beitrag im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes vertreten war, zeigt die Diagonale’21 eine Gesamtretrospektive von Hausners Œuvre inklusive der Wiederentdeckung einer frühen studentischen Arbeit. Nach Absage der Diagonale’20 ist das um das Musikvideo Attwenger – ersoundsieso (AT 2021) und eine Buchpräsentation ergänzte Programm von Zur Person: Jessica Hausner im Juni 2021 endlich im Kino zu sehen.
Flankiert von vertiefenden Gesprächen mit Jessica Hausner und ihren Wegbegleiter*innen macht das Filmprogramm anschaulich, wie Hausner, die 2020 als erste Regieprofessorin an die Wiener Filmakademie bestellt wurde, Film und Kino denkt.
Nunmehr zum fünften Mal zeichnet die Reihe Zur Person damit einzelne Etappen und Passagen der jüngeren österreichischen Filmgeschichte entlang markanter Biografien und künstlerischer Œuvres nach.
Mehrdeutig, kunstvoll, preisgekrönt
Spielfilme mit prägnanter Handschrift
Jessica Hausners Filme erscheinen seit jeher eigenwillig. Eines ihrer wohl auffallendsten Stilmittel ist der „seltsam unbeteiligte, distanzierte Blick auf die Figuren und ihre Bestreben“, so Filmkritiker Dominik Kamalzadeh in einem Essay über Hausners Werk, der im Katalog der Diagonale’20 erschienen ist. Bereits die frühen, an der Wiener Filmakademie entstandenen Arbeiten Jessica Hausners künden von einem solchen ausgeprägten Gestus. Zwar zeigen sich der Coming-of-Age-Kurzfilm Flora (AT 1996) und die fünfzigminütige Filmakademie-Abschlussarbeit Inter-View (AT 1999) noch tief in realen (Jugend-)Milieus der 1990er-Jahre verhaftet, doch auch hier ist das „charakteristisch relativierende Moment ihrer Filme, eine Unwägbarkeit im Blick auf die Figuren und ihre misslichen Lagen“ augenscheinlich, wie Kamalzadeh weiter anmerkt. Diese Mehrdeutigkeit in ihrer Inszenierung wird Hausner im Laufe der Jahre immer stärker betonen und damit zur „international wohl bedeutendsten österreichischen Filmemacherin der Gegenwart“ avancieren.
Von der Wiener Filmakademie nach Cannes und Venedig – und zurück!
Jessica Hausner, deren Filme immer auch Mut zur erzählerischen Lücke beweisen, wurde 1972 in Wien geboren und studierte Filmregie an der Wiener Filmakademie. Bereits ihr Kurzfilm Flora erhielt bei den Internationalen Filmfestspielen Locarno den „Leopard von morgen“, Inter-View wurde 1999 im Rahmen der Cinéfondation bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet. Im selben Jahr gründete Hausner gemeinsam mit Barbara Albert, Antonin Svoboda und Martin Gschlacht die Produktionsfirma coop99. Ihre erste Premiere in Cannes 1999 legte die Weichen für ihre internationale Karriere. So wurden sowohl ihr Langfilmdebüt Lovely Rita (AT/DE 2001) als auch der Thriller Hotel (AT/DE 2004), für die Hausner das Drehbuch selbst schrieb, wenige Jahre später in der Reihe „Un Certain Regard“ in Cannes präsentiert. In Lovely Rita greift die Filmemacherin das Coming-of-Age-Thema ihres Kurzfilms Flora auf und legt mit der Geschichte über ein pubertierendes Mädchen, das mit ihrer Sexualität alle überfordert, die alltägliche Beziehungslosigkeit bloß. Lovely Rita war zudem die erste Produktion der coop99-Filmproduktion. Im Mittelpunkt des Psychothrillers Hotel wiederum steht die Rezeptionistin eines Berghotels, deren Schicksal sich mit dem ihrer auf mysteriöse Weise verschwundenen Vorgängerin zu verweben beginnt.
Fünf Jahre nach Hotel realisierten Jessica Hausner und ihr eingespieltes Team schließlich das Drama Lourdes (AT/FR/DE 2009), das im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Venedig uraufgeführt und mit dem FIPRESCI-Preis gewürdigt wurde. Das Drehbuch über die Wunderheilung der an Multipler Sklerose erkrankten Christine (Sylvie Testud), die in den Wallfahrtsort Lourdes reist und plötzlich wieder gehen kann, verfasste Hausner abermals selbst. Ein Wiedersehen mit der Festivalschiene „Un Certain Regard“ brachte indes Hausners nächster Film, Amour Fou (AT/LU/DE 2014). Er feierte in Cannes Premiere und bedient sich der tragischen Biografie des deutschen Schriftstellers Heinrich von Kleist. Die historische Verortung der Erzählung erforderte nicht zuletzt ein aufwändiges Produktions- und Kostümdesign. Eine besondere Herausforderung für Ausstatterin Katharina Wöppermann und Kostümbildnerin Tanja Hausner – letztere ist die Schwester und beständige Begleiterin der Filmemacherin. Einen weiteren Höhepunkt in Hausners Karriere markiert die Premiere ihres sechsten Spielfilms Little Joe (AT/DE/UK 2019), diesmal im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes. Das futuristische Science-Fiction-Märchen, das von einer genmanipulierten Pflanze erzählt, die durch ihren Duft Menschen infiziert und glücklich macht, ist Hausners erster englischsprachiger Film. Hauptdarstellerin Emily Beecham wurde an der Croisette für ihre Performance als beste Schauspielerin mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet. Die Klänge von Hausners zwischen Psychothriller und Horrordrama changierendem Werk gehen auf den von ihr verehrten japanischen Avantgardekomponisten Teiji Ito zurück. 2020 wurde Jessica Hausner als erste Regieprofessorin an die Wiener Filmakademie bestellt.
Frauenfiguren zwischen Einbildung, Eigensinn und Realität
Im Mittelpunkt von Hausners Arbeiten stehen immer Frauenfiguren, die sich durch ihre Bestrebungen und manchmal auch gut versteckten Bedürfnisse von ihrem sozialen Umfeld zu isolieren drohen. Der Unkontrollierbarkeit des Lebens treten sie dabei durchwegs eigensinnig entgegen. „Die Filme vereinnahmen ihre Heldinnen nicht, sie arbeiten verschmitzt gegen erzählerische Harmonien und Sicherheiten“, attestiert Filmjournalist Dominik Kamalzadeh im bereits erwähnten Essay.1
Die Kunst der Künstlichkeit
Von Kamera bis Kostüm
Stilistisch setzt sich Hausner mit Fortdauer ihres Schaffens immer stärker vom Naturalismus ab: Die Künstlichkeit ihres Kinos ist rigoros geplant, die Kamera von Martin Gschlacht leitet den Blick der Zuschauer*innen gern in die Irre. Auch Settings, Farben und nicht zuletzt die Kostüme von Tanja Hausner – für Amour fou etwa in Zusammenarbeit mit der Hutmanufaktur Mühlbauer – betonen die Risse, die sich zwischen den Figuren, ihren Vorstellungen und der realen Welt auftun.2
Hausners Kino
Von Menken bis Deren und Hammid, von Teiji Ito bis Attwenger
Die Zusammenstellung der Reihe macht anschaulich, wie Jessica Hausner Film und Kino denkt und welche Einflüsse sich in ihrem bisherigen Schaffen bemerkbar machten. Neben ihren eigenen Filmen werden auch zwei zentrale Arbeiten der US-Avantgarde von Maya Deren und Marie Menken zu sehen sein. Beide setzten so wie Hausner in ihrem jüngsten Film Little Joe die Musik des legendären japanischen Komponisten Teiji Ito ein.
Komplettiert wird das Programm durch ein ausführliches Diagonale im Dialog im Anschluss an das Screening von Little Joe sowie durch eine Listening Session mit Jessica Hausner und Musiker Markus Binder (Attwenger), in der die beiden entlang ausgewählter Lieblingsmusikstücke anekdotisch über ästhetische Ansichten und persönliche Vorlieben plaudern, sowie durch eine Buchpräsentation: Der zweite Band der Reihe „Aus der Werkstatt“ stellt mit Jessica Hausner eine der wichtigsten Stimmen des gegenwärtigen europäischen Kinos in den Fokus. Mit den Herausgeber*innen sprach Hausner ausführlich über ihr gesamtes Filmschaffen – beginnend bei ihren frühen Akademie-Kurzfilmen bis hin zu ihrem jüngsten Film Little Joe. Die Reihe „Aus der Werkstatt“ basiert auf einem Oral-History-Projekt der Medien- und Filmwissenschaft an der Filmakademie Wien.
„Jessica Hausners Kino ist betörend, bestechend, mitunter verstörend – im faszinierendsten und somit besten Wortsinn. Ihre Filme sind stets aufwändig gestaltet, minutiös ins kleinste Detail hinein durchdacht und präzise montiert. Der gebannte Blick des Kinogängers, der Kinogängerin möchte förmlich auf jeder einzelnen Sequenz verweilen: im Speisesaal in Lourdes, entlang der Beete in den Gewächshäusern aus Little Joe, in den aufgeräumten Gängen aus Hotel. Sie alle werden durch das Ineinanderwirken von Kamera und exakt choreografierten Figuren, deren häufig stilisiertes Auftreten zugleich Ausdruck und Reflexion der inszenierten Milieus ist, zu unverkennbaren Hausner-Szenen. Das Kino Hausners ist eines wider die Zerstreuung, das – und darin liegt eine große Besonderheit dieser Filmemacherin – bei aller Strenge nicht selten hochvergnüglich und voller Humor ist. Eines, das dem gegenwärtigen Authentizitätsfetisch selbstsicher mit größter Künstlichkeit antwortet und dabei umso treffsicherer die Beschaffenheit unserer Welt zu beschreiben vermag – auch um diese zu kritisieren.“
— Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber
Filmliste Zur Person: Jessica Hausner
— Little Joe (R: Jessica Hausner, AT/DE/UK 2019)
— Vorfilm: Meshes of the Afternoon
(R: Maya Deren, Alexander Hammid, US 1943, Vertonung durch Teiji Ito 1959)
Hotel (R: Jessica Hausner, AT/DE 2004)
— Vorfilm: Attwenger – OIDA (R: Jessica Hausner, AT 2015)
Vorfilm: Attwenger – Rhapsodariddim (R: Jessica Hausner, AT 2017)
Vorfilm: Attwenger – ersoundsieso (R: Jessica Hausner, AT 2021)
Inter-View (R: Jessica Hausner, AT 1999)
Ich möchte sein manchmal ein Schmetterling (R: Jessica Hausner, AT 1993)
— Amour fou (R: Jessica Hausner, AT/LU/DE 2014)
— Lovely Rita (R: Jessica Hausner, AT/DE 2001)
Nachfilm: Flora (R: Jessica Hausner, AT 1996)
— Vorfilm: Arabesque for Kenneth Anger (R: Marie Menken, US 1961)
Lourdes (R: Jessica Hausner, AT/FR/DE 2009)
— Toast (R: Jessica Hausner, AT 2006, Diagonale’06 Trailer)
Die Trailerversion von Toast wird vor sämtlichen Screenings der Reihe Zur Person: Jessica Hausner gezeigt.
Die Diagonale dankt dem Projektsponsor Gaulhofer – Fenster zum Wohnfühlen.
1 Vgl. Dominik Kamalzadeh, „Lücken, die das Leben lässt“, Essay im Katalog der
Diagonale’20.
2 Vgl. ebenda.